Was macht der Krieg aus den Menschen?
Die ungarische Schriftstellerin Agota Kristof veröffentlichte 1987 ihren Roman Das große Heft – und erzielte damit auf Anhieb internationalen Erfolg. Aus diesem Roman hat der in Berlin lebende US-Amerikaner Sidney Corbett eine Oper gemacht - hundert konzentrierte Minuten, die alles andere sind als leichte Kost.
Es geht um Zwillinge, neun Jahre alt. Die erleben den Krieg – und ziehen die Konsequenz, sich „abzuhärten“ gegen das Leidempfinden. Sie erfinden masochistische Übungen, durchbohren ihre eigenen Hände, schlagen sich mit Gürteln, träufeln Alkohol in Schnittwunden. Kurz darauf richtet sich ihre Gewalt gegen Tiere – aus Spaß am Töten. Werden die Zwillinge zu kleinen Monstern? Man erwartet dies eigentlich nach den ersten paar Bildern der Oper.
Aber so eindimensional ist die Sache nicht. Irgendwie behalten die Kinder einen Rest von Menschlichkeit, zeigen Empathie mit Außenseitern wie dem Töchterchen von Nebenan namens „Hasenscharte“. Dann wiederum werden sie Opfer sexueller Gewalt durch einen Offizier und die Haushälterin des Pfarrers, der seinerseits seine eigene Missbrauchs-Geschichte zu verantworten hat. Kurz: es geht um ein Leben in einer extremen Situation, wie Agota Kristof, 1935 geboren und 2011 gestorben, sie selbst erlebt haben muss.
Regisseur Alexander May spart nicht mit harten Szenen. Die wirklich drastischen aber lässt er „nur“ erzählen. Vergewaltigungen deutet er behutsam an. Und auch das Opern-Finale findet vor dem geistigen Auge des Publikums statt: der Vater der Zwillinge, auf der Suche nach dem Weg in die Heimat der Familie, wird von ihnen als lebendiges Minensuchgerät missbraucht. Vermutlich sind all diese Geschehnisse schriftlich aufgezeichnet, finden Eingang in das „große Heft“, das die Zwillinge angelegt haben und das mit seinen überdimensionalen Buchseiten die Bühne prägt und vom wahren Leben erzählen soll. Etienne Pluss hat so eine Bühne gebaut, die den Titel etwas plakativ illustriert, sich aber als sehr zweckmäßig erweist, um die einzelnen Szenen voneinander abzugrenzen – sowohl verbindendes als auch trennendes Element.
Das Theater Osnabrück und sein Intendant Ralf Waldschmidt haben eine mutige Entscheidung getroffen, Corbetts Stück zur Uraufführung zu bringen. Es ist ein beeindruckendes Werk, nicht so sehr berührend, aber nachdenklich machend – ein Stück darüber, wie der Krieg aus Menschen wilde Tiere machen kann – und wie doch immer ein Rest von Menschlichkeit durchscheint.
Das beglaubigen zutiefst Marie-Christine Haase und Susann Vent, die ihre im wahrsten Sinne mörderischen Partien als Zwillinge perfekt meistern und auch schauspierlerisch enorm glaubwürdig sind. Beeindruckend Eva Gilhofer als vom Leben völlig desillusionierte Großmutter, die die Kinder in eine harte Schule nimmt. Ariane Ernesti verkörpert die Außenseiterin Hasenscharte ebenso überzeugend wie Almerija Delic die geile Magd, Jan Friedrich Eggers den masochistischen Offizier und Genadijus Bergoluko den verfolgten Schumacher. Ein dickes Lob geht an Mark Hamman, der seine gemein hohe Partie als Polizist glänzend schultert.
Andreas Hotz ist ein Dirigent, der die komplexe Partitur gestenreich und in ihrer ganzen Farbigkeit zur Geltung bringt. Die Osnabrücker Symphoniker folgen ihm mit hoher Konzentration. Wie auch das Publikum, das still das brutale Geschehen verfolgte und am Ende begeistert applaudiert.