Menschen unterm Mikroskop
Am Beginn heller Glanz, strahlendes, ein wenig imperiales Auftrumpfen, rauschende Walzerseligkeit. Über Lautsprecher donnert uns Johann Strauß’ An der schönen blauen Donau entgegen, die Lüster erglühen über Parkett und Rängen des Deutschen Theaters Berlin. Glitzernde Pracht nicht ohne Symbolkraft: jaja, das Habsburger Reich, das waren noch Zeiten. Dann aber verlischt das Licht, zieht sich die Musik in sich zurück, ganz hinten auf der Bühne erblicken wir seltsame Gestalten, und das Spiel kann beginnen. Es heißt Geschichten aus dem Wiener Wald, steht in stärkstem Widerspruch zum österreich-ungarischen Machtgefühl, zeigt einfache, im Grunde einsame Menschen in der düsteren Zeit des aufkeimenden Faschismus. Ödön von Horváths Volksstück schildert kleine Dramen, rafft sie zusammen, um dann, verkümmerte Seelen hinterlassend, in einer Katastrophe zu enden.
In Berlin legt Regisseur Michael Thalheimer die Figuren unters Mikroskop. Sodass wir sie von allen Seiten betrachten können. Mit all ihren Marotten, Ängsten, Sehnsüchten, in all ihrer Rohheit, Fragilität, Großmäuligkeit und Naivität. Vorn an der Rampe bauen sie sich auf, offenbaren sich, episodenhaft Beziehungsgeflechte darstellend. Mehr und mehr gleiten sie ab in Deformation, macht sich große Leere breit. Entsprechend bleibt die Bühne überwiegend unbebaut. Nur ein paar Stühle und ein Tisch im Hintergrund, zunächst nur Rückzugsgebiet für die, die gerade nicht im Fokus stehen. Thalheimer setzt aufs Schauspieler-Theater, mithin auf die puristische Interaktion mittels Mimik, Bewegung, Sprechrhythmen, Ausdrucksformen. Erfüllt so aufs Genaueste Horváths Demaskierungsabsichten, zerfetzt alle Wiener Gemütlichkeit. Ganz ohne Regiemätzchen, ohne die oft krampfhafte „Verlegung“ in eine andere Zeit. Aber mit exzellenten Darstellern und der Furchtlosigkeit vor großen Fußstapfen: Einst inszenierte Heinz Hilpert hier Geschichten aus dem Wiener Wald, im Jahr 1931 – es war die Uraufführung.
Im Zentrum dieses Horváthschen/Thalheimerschen Menschenkosmos steht Marianne, die Tochter des alternden Zauberkönigs, die den Fleischer Oskar heiraten soll, aber den Hallodri Alfred irgendwie liebt. Die auf die Heirat pfeift, mit dem Geliebten ein Kind hat, ein wenig glücklich sein darf. Um am Ende alles zu verlieren. Katrin Wichmann gibt diese junge Frau – als traurige wie trotzige, etwas ungelenk sich bewegende, schüchtern naive wie aufbegehrende Gestalt. In gewisser Hinsicht ist sie dem Oskar von Peter Moltzen nicht unähnlich: dem bedauernswerten Umstandskrämer, ein Tropf, der bisweilen melancholisch dreinschaut. Wäre da nicht diese unheimliche Entschlossenheit, mit der er Marianne prophezeit, sie werde seiner Liebe nicht entgehen.
Da sucht sie das Glück lieber bei Alfred. Doch so unbekümmert dieser (Andreas Döhler) daherschlendert, schnell schwatzt, Geld verwettet, so unbedarft, fast einer Laune folgend, wendet er sich von seiner ewig trunkenen Valerie ab (Großartig: Almut Zilcher) und Marianne zu. Aber er muss erkennen, dass auch er ein Gescheiterter ist. Das gemeinsame Kind hat er zu seiner Mutter und Großmutter (Katrin Klein und Simone von Zglinicki in Hassliebe einander zugewandt) in die Wachau gebracht. „Da draußen in der Wachau, die Donau fließt so blau...“ singt Marianne in aller herzzerreißenden Zärtlichkeit. Ein altes Wiener Lied, die Sehnsucht nach einer schöneren Welt ausdrückend. Doch sie singt es als halbnackte Tänzerin in einem Varieté. Und es regnet Konfetti und die Zeit steht still.
Bei Michael Thalheimer nämlich ist alles Ruhe, nie herrscht hektischer Aktionismus. Langsam schlittern die Menschen dem Abgrund entgegen: Wenn aus dem Lautsprecher leises Streicher-Schillern tönt, das harmonisch in sich kreisende Gerüst des eigentlich pompösen Donauwalzers. Wenn am Ende die perfide Oma Mariannes Kind sich zu Tode frieren lässt. Wenn die Figuren Masken tragen, wo sie doch schon lange ihre wahren Gesichter gezeigt haben. Etwa Mariannes hartherziger, verbitterter Vater (Michael Gerber), der stramme, schneidige Nazi Erich (Moritz Grove) oder der in seiner k.u.k-Welt versunkene Rittmeister (Harald Baumgartner).
Am Schluss gruppieren sich alle, vorn, um den Tisch herum. Eine Gesellschaft der Schuldigen und Opfer, der Schlauen und Dummen, der Zyniker und Naiven. Keine Volkstheater-Typenparade, vielmehr eine Gruppe vivisektierter Charaktere. Ein großer, beklemmender Abend.