Triumph der Kunst und Kultur
Soviel Theater war selten. Über 200 Sänger, Schauspieler, Tänzer, Laien und Musiker bevölkern im Grand Finale die riesige Bühne und den hochgefahrenen Orchestergraben. Ein prachtvolles Bild entfaltet sich vor den Augen des Publikums - ein Farbenspiel mit Lichtkaskaden und Strahlenbündeln, gespiegelt auf metallisch gleißenden Wänden. Zwei Drehbühnen kreisen und fahren einen Wust an Möbeln und Menschen auf. Im Tohuwabohu der Endzeittristesse reihen sich Kinder in Lederhosen und orangenen Hemden und Schauspieler als mythische Gestalten von Salome bis Ödipus auf, bayerisches Volk in Dirndl oder mit Alphorn und Opernfiguren wie die Rosenkavalier-Marschallin mit ihrem Kavalier Octavian, dazwischen Trauernde, Krankenschwestern und mannsgroße Osterhasen. Anne Marie Legenstein hat für alle 300 Kostüme entworfen. Robert Israel führt die reibungs- und lautlos funktionierenden technischen Möglichkeiten der riesigen Bühne vor. Das Bruckner-Orchester streicht und bläst in schriller Karnevalskostümierung samt seinem Dirigenten Dennis Russell Davies mit goldenem Pappkrönchen auf der Bühne. Im Graben räkeln sich festlich gewandete Choristen auf den grün gepolsterten Musikerstühlen. Tänzerinnen schmeißen als feuerrote Varieté-Truppe Beine und Po. Immer wieder ruft und singt es in die ausgelassene Stimmung: „Wenn doch immer Advent wäre - und Weihnachten nie“. Endlich lassen all die namenlosen Lebensverirrten ihre hilflose Spurensuche und ihr globales Sprachenwirrwarr hinter sich und stimmen in einen grandiosen „la-la-la“-Chor ein, der mit einem gewaltigen Pauken-Crescendo endet. Das wirkt merkwürdigerweise kein bisschen kitschig, sondern kommt als Jubelchor der Hoffnung und Befreiung über, beantwortet nach sehr kurzem Zögern mit anhaltenden Ovationen.
So endete die Uraufführung von Philip Glass' neuer Oper Spuren der Verirrten nach Peter Handkes Schauspiel von 2006, als Libretto eingerichtet von Intendant Rainer Mennicken, zur Eröffnung des neuen Linzer Musiktheaters. Philip Glass entdeckte Handkes surreal abstraktes Endzeitszenario aus Gedankensplittern und Momentaufnahmen wieder und kleidete es in ein überraschend poetisches, feingliedriges, hauchzartes, an Klangfarben reiches Gewand mit selten lauten, oftmals melodiösen Lyrismen ohne den typischen endlosen eindimensional minimalistischen Klangteppich.
Aus dem Heer der Namenlosen - auf der Besetzungsliste teilweise mit Buchstaben unterschieden, aber für den Zuschauer nicht zu unterscheiden - heben sich drei „Handelnde“ heraus: der Zuschauer (Lutz Zeidler), der Protagonist, ein mit Gasmaske und Schutzanzug vermummter samt Lösch- oder Giftgasspritz (Peter Pertusini) und „Der Dritte“, ein Propagandist und Diktator (die vorzügliche Sopranistin Christa Ratzenböck).
Entstanden ist ein vitales, zauberhaftes Gesamtwerk aller Theatersparten in der ungemein fantasievollen und detailreichen Regie von David Pountney mit Unterstützung des vielseitigen Choreografen Amir Hosseinpour, der nicht nur das vorzügliche Ballettensemble mit origineller Stummfilmartistik führt, sondern auch das Musicalensemble, Opernsänger, Choristen, Laien und Kinder effektvoll in Bewegung setzt. Banalität und Poesie gehen eine Allianz ein, die an Theatralik ihresgleichen sucht. Harsche Dissonanzen, Provokation und Irritation blieben außen vor bei diesem Balanceakt, genau 210 Jahre nach Eröffnung des ersten Theaters in der (späteren) oberösterreichischen Industriestadt eine weitere Spur zu legen in Richtung der Vision einer zeitgemäßen Stadt der Arbeit und Kultur.
Fast auf den Tag genau 210 Jahre nach der Eröffnung des ersten Theaters an der Promenade unterhalb des Schlossbergs, wo jetzt Schauspiel und Jugendtheater residieren, eröffnete Österreichs Bundespräsident Fischer das neue Haus. Riesig zwar und dennoch völlig unaufdringlich passt sich der zehnstöckige, teilweise ins Erdreich eingelassene Bau in die umgebende Architektur - hell, fast nüchtern und dennoch mit einem gewissen Raffinement und dezenter Eleganz dank einer Lamellenummantelung, die Architekt Terry Pawson als „Vorhang“ verstanden wissen möchte.
Marmor, Ahornholz und mattschimmernde Metalle sind die hauptsächlichen im Inneren verwendeten Materialien. Großzügig wirken Foyers und Treppenaufgänge. Vornehm und komfortabel sind die rotgepolsterten 1250 Zuschauersitze mit uneingeschränkter Sicht von überall her. Als superb erwies sich die Akustik. Bei der Glass-Premiere hallten nur die Schauspielerstimmen unschön nach auf den Rängen. Samtig und transparent dagegen klang das Bruckner-Orchester unter GMD Davies, dem Glass- und Bruckner-Spezialisten.
Das neue Musiktheater an der südlichen Schmalseite des Volksgartens soll ein Theater für alle sein. Mediathek „Klangwelt“ und „Musikfries“, Restaurant „das Anton“ (Bruckner wird sich im Grabe umdrehen) und das Café auf der Eingangsebene sind tagsüber für jedermann geöffnet. Festakt und Glass-Uraufführung wurden auf einer Leinwand live nach draußen übertragen. Viele hundert Linzer waren zur Premiere des Open-Air-Spektakels Ein Parzifal der katalanischen Straßentheatergruppe El Fura dels Baus auf den Theatervorplatz gekommen. Mit der österreichischen Erstaufführung des Musicals Die Hexen von Eastwick und der Musicalrevue Seven in Heaven stellt sich das hauseigene neue Musicalensemble vor. Neueinrichtungen für die große Bühne des Balletts Campo amor vom kürzlich verstorbenen Ballettdirektor Jochen Ulrich und des Rosenkavalier vervollständigen das Programm der Eröffnungswoche.
Seit 1977 hat man in Linz geträumt, geplant, gestritten. Vor sieben Jahren fiel die Entscheidung für die Überbauung des chaotischen Verkehrsknotenpunktes zwischen City und Bahnhofsviertel, wo vorher das einst hochmoderne Unfallkrankenhaus gestanden hatte. 180 Millionen Euro berappten Bund, Land Oberösterreich, Stadt Linz und Sponsoren. Nach der glanzvollen Eröffnung - voll im Soll von Zeitplan und Budget - bleibt zu hoffen, dass das Haus seinem Anspruch als „eines der modernsten Musiktheater Europas“ auch programmatisch gerecht und vom Publikum angenommen wird.