Übrigens …

Von den Winden

Tanzkunst zwischen Ost und West

In der hessischen Universitätsstadt Gießen gab es ein Wiedersehen mit der Tanzkunst Daniel Goldins, Münsters Tanztheaterleiter von 1996 bis 2012. Zum Auftakt der 11. Folge des Festivals TanzArt ostwest choreografierte der Argentinier im Stil seines expressionistischen Ausdruckstanzes mit Mitgliedern der Tanzcompagnie Gießen von Tarek Assam und Tanzeleven aus der chinesischen Wirtschaftsmetropole Shenzhen sein neues, knapp einstündiges, dreiteiliges Stück auf dem Gelände der heutigen Technischen Hochschule Mittelhessen. Von den Winden ist inspiriert von einem Vierzeiler des spanischen Bürgerkriegs-Sympathisanten Miguel Hernández (1910-42): "Winde des Volkes tragen mich - Winde des Volkes reißen mich mit sich - verstreuen mein Herz - schwellen die Kehle mir".

Untermalt hat Goldin die Bewegungsmuster für Gruppen und Solisten mit einem eigenen Arrangement aus Musik von Brian Eno und George Rochberg (dessen Variationssatz aus dem 6. Streichquartett, basierend auf dem berühmten Kanon von Johann Pachelbel). Da flirren ätherische Ostinati, durchwebt von Cembalozirpen und kurzen Streicherpassagen mit dem Pachelbel-Thema wie federleicht schwebende, flügelschlagende Kolibris im Wind. Die vier chinesischen Tänzerinnen geben die hauchzarten Klänge mit betörender Eleganz wider durch winzigste Hüftschwünge, Kopfrucken, tastende Schritte und weiche Armschwünge. Die allerschönsten Legatobögen aber malt die Taiwanesin Hsiao-Ting Liao, seit 2011 bei der Gießener Truppe, mit ihren feingliedrigen Händen und ebenmäßigen, wie gemeißelten Armen in die Luft. Als Anführer der achtköpfigen "westlichen" Truppe verströmt Marco Barbieri Trauer und Melancholie, die für Goldins Tanztheater so charakteristisch sind, wenn die Gruppe wie in einer Trauerprozession von draußen in den engen Raum der Baracke im Hinterhof eines Institutsgebäudes zieht.

Zwanzig Minuten später ziehen alle, nun paarweise, wieder aus, gehen Hand in Hand über den Sonnen durchfluteten Hof zum ehemaligen Chemiegebäude aus der Gründerzeit, wälzen sich mühevoll über die breiten Stufen und Treppenabsätze durch die Etagen nach oben. Die Zuschauer schlängeln sich - mehr oder weniger diskret - an ihnen vorbei, entlang an den gusseisernen Geländern bis zum einstigen Hörsaal oder Labor. Die hohen Fenster sind mit schmalen grauen Vorhängen verhängt, der Steinboden mit weißem Tanzboden belegt. Eine Stuhlreihe grenzt Spielfläche und Zuschauer(steh)raum ab. Hier nun wiederholen die sieben Chinesen der anderen Gruppe ein sehr ähnliches, aber nicht völlig identisches Ritual des Tastens und Voranstrebens. Nach und nach finden sich die vier Paare aus dem Treppenhaus ein. Gegenläufig tanzen sie mit den anderen, mischen sich schließlich unter sie. Wunderbare Diagonalen ergeben sich.

Eine Tänzergruppe derart effektvoll in einem Raum zu "organisieren", das war schon immer Daniel Goldins ganz besondere Stärke. Irgendwann aber zerfällt diese Gruppe auch wieder. Wie durch unsichtbare Zentrifugalkraft gezogen, stieben 13 Tänzerinnen und Tänzer - lautlos, im Zeitlupentempo - auseinander, werden an die Wände gepresst. Zurück bleibt ein Paar (Barbieri und Liao). Er stupst die puppenhaft Regungslose ganz sanft an, erst am Ellenbogen, dann in der Kniekehle und in der Taille. Schließlich bewegt sie sich mechanisch von allein, schwerelos wie Herbstlaub, das von einem Windhauch aufgehoben wurde.

"Site specific project" nennt sich so eine aktuelle Performance, die nicht auf einer normalen Theaterbühne aufgeführt wird, sondern sich anderen Räumlichkeiten anpasst - ein gelungenes Experiment, Daniel Goldins sensible Tanzkunst aus einer neuen Perspektive zu erleben.

Diesem Festival-Auftakt folgte eine Vielzahl von Beispielen unterschiedlichster choreografischer "Handschriften" auf deutschen Bühnen und aus der freien Szene. Eins hatten alle Gastauftritte und die beiden Aufführungen der Tanzcompagnie Gießen mit Tarek Assams Hemingway Party und Siddhartha gemein: die technisch hohe Qualität der typisch international und interkulturell bunt gemischten Truppen und solistischen Formationen. Höhepunkt des neuntägigen Festivals war eine Gala, an der sich ein Dutzend deutscher Compagnien beteiligte - aus NRW die Dortmunder und Hagener. Ein besonderes Glanzlicht setzte Chinas Vorzeige-Truppe des modernen Tanzes, Beijing Dance / LDTX mit Sorrowful Song auf Ausschnitte aus Henryk Góreckis gleichnamiger Symphonie.