Über die Kunst der Lüge
„Meine Damen und Herren! Ich habe sie hergebeten, um Ihnen eine höchst unerfreuliche Mitteilung zu machen: ein Revisor ist zu uns unterwegs!“ Dieser Satz des Oberbürgermeisters zu den Honoratioren einer anonymen russischen Kleinstadt eröffnet die Komödie Der Revisor (1836) und umreißt bereits die ganze Geschichte. Ein Revisor hatte zu überprüfen, ob die Behörden effektiv arbeiteten, ob Korruption oder andere Missstände herrschten. Gogol definiert diesen Gesetzeshüter in seiner Komödie wie folgt: „Der Revisor ist unser aufgerütteltes Gewissen, das uns plötzlich zwingt, zutiefst in uns selber zu schauen“.
Im Stück wird Chlestakow, ein mittelloser, durchreisender Beamter, der mit seinem Diener Ossip im örtlichen Gasthof abgestiegen und dort seit geraumer Zeit unfähig ist, seine Zeche zu zahlen, für den gefürchteten Revisor gehalten. Die Stadtväter geraten wie ein aufgestörter Ameisenhaufen in fieberhafte Bewegung, um Misswirtschaft, Gewaltakte und Bestechung zu vertuschen. Sie versuchen, die hochgestellte Persönlichkeit zu schmieren und für sich einzunehmen. Die anfängliche Verwirrung Chlestakows, der statt der Devotionen seine Arretierung als Zechpreller erwartet hatte, trägt nur dazu bei, ihm eine geheimnisvolle Aura zu geben. Er siedelt in das Haus des Bürgermeisters über, macht dessen Frau und Tochter den Hof und lässt sich von allen Bürgern Geldgeschenke machen. Schließlich verlässt er Hals über Kopf den zu heiß gewordenen Boden. Das Leben in der Provinzstadt wird letztlich weitergehen wie zuvor, hat doch niemand in dieser korrupten Gesellschaft ein großes Bedürfnis nach der Wahrheit.
Herbert Fritsch, schon als Schauspieler sehr erfolgreich, inszeniert seit geraumer Zeit in einer sehr charakteristischen Handschrift, so z.B. Ibsens Nora in Oberhausen, Brechts Puntila in Köln und das Einwort-Stück Murmel, Murmel an der Volksbühne in Berlin. Jetzt nahm er sich des Revisors an.
Das Ergebnis: eine total überzeichnete, irre temporeiche, oft fast hysterische Inszenierung mit den für Fritsch typischen verfremdenden Kostümen und zahlreichen Kalauern, die auch manchmal zu viel werden können. So heißt der Richter in der Fassung von Sabrina Zwach Lap-Top (ursprünglich: Ljapkin-Tjapkin) und der Polizeichef Korruptkin (statt Swasnik-Dmuchanowski). Chlestakow kündet einen „Monolög“ an, der Schulrat spricht von „Grimassen statt Grimms Märchen“.
Alle ehrenwerten Bürger der Kleinstadt sehen – leichenblass, grünlich-gelb geschminkt – wie Zombies aus einem Horrorfilm aus. Die einander ähnlichen hellen Kostüme verstärken den Eindruck der Uniformität. Allen gemeinsam auch die zappeligen Bewegungen, das exaltierte Sprechen. Fritsch kann sich auf exzellente Schauspieler verlassen, allen voran Sebastian Blomberg als Chlestakow im Zentrum der Verwechslungskomödie. Wie ein Gockel stolziert er im lilafarbenen, hautengen Anzug in hochhackigen, roten Stiefeln über die Bühne, von Kopf bis Fuß der halbseidene Strizzi, der mit immer mehr Dreistigkeit die neue Rolle auskostet und den katzbuckelnden Honoratioren die dreistesten Lügen auftischt: „Interessant ist es auch, einen Blick in mein Vorzimmer zu werfen: Grafen, Fürsten, Minister, ich verrate nicht zu viel, wenn ich sage, auch der Zar ist mir bekannt“.
Aurel Manthei (Bürgermeister), Gunther Eckes (Hospitalverwalter), Lukas Tutur (Ersatz für den in der besuchten Vorstellung erkrankten Sierk Radzei als Polizeichef), Michele Cuciuffo (Kreisarzt Dr. Hübner), Miguel Abrantes Ostrowski (Richter Lap-Top) und Paul Wolff-Plottegg (Postmeister mit postgelben Schuhen) bilden die Truppe der ach so ehrbaren Bürger. Alle perfekte Rädchen in diesem rasanten Zappel- und Slapstick-Zirkus, der nur manchmal zum Halten kommt.
Grandios das von Fritsch selbst entworfene Bühnenbild. Große, durchsichtige Plastikvorhänge sind hintereinander gestaffelt aufgehängt. Sie erlauben verschiedene Perspektiven bei Auftritten bzw. Abgängen. Oft wieseln zwischen ihnen die Mitglieder des Chors der Kaufleute – grüne Masken lassen alle gleich aussehen – umher. Mal beobachten sie das Geschehen als stumme Zeugen, dann wieder sammeln sie das von oben herabregnende Bestechungsgeld eifrig auf. Spielt eine Szene in einem Innenraum, z. B. im Haus des Bürgermeisters, so wechselt das Bühnenbild: wir sehen nun in einen tunnelartigen Raum, der von den Umrissen der „Häuser“ begrenzt wird. In Kombination mit unterschiedlichen Beleuchtungen passt dies gut zur überdrehten Komödientechnik des Regisseurs.
Zum Schluss tanzen alle Darsteller in einer Reihe immer wieder vom Bühnenhintergrund bis an die Rampe zu einer mitreißenden Musik, die das Publikum zum Mitklatschen animiert. Ein cleverer Schachzug, der die Zuschauer in bester Laune das Haus verlassen lässt.
Manches kommt dem Betrachter, der nicht zum ersten Male eine Inszenierung von Herbert Fritsch sieht, allzu bekannt vor: die Slapsticks, das aufgedrehte, überzeichnete Spiel, die skurrilen Kostüme. Durch das ausgezeichnete Ensemble und insbesondere durch Sebastian Blomberg bleibt jedoch Gogols Gesellschaftskritik aktuell. Die Betrüger werden von einem Betrüger betrogen und lernen doch nichts dazu.
Ein unterhaltsamer Abend, mit dem Fritsch seine These glänzend illustriert: „Ich bin davon überzeugt, dass die Lüge eine Gesellschaft aufrechterhält“. Mag man sie nun teilen oder nicht.