Die Zauberflöte im Bregenz

Pountneys Götterdämmerung

Unbekanntes, zeitgenössische Musik, dazu die wenig populäre Revolutionsoper André Chénier: David Pountney, Regisseur und seit 2003 Intendant der Bregenzer Festspiele, hat es seinem Publikum – und seinen Chefs (!) – nicht immer leicht gemacht. Zwar bekam das Sommerfestival am Bodensee durch den Briten ein markantes, überraschend aufregendes Profil. Doch das passte nicht jedem. Sein Vertrag wurde nicht verlängert. Ab 2015 übernimmt Elisabeth Sobokta die Leitung des Festivals. Quasi als Abschiedsgeschenk serviert Pountey nun 2013/2014 auf der Seebühne Mozarts Zauberflöte und tischt dafür üppig auf.

Dass der Brite sich auf spektakuläre Inszenierungen versteht, bewies er bereits 2006, als er bei der Ruhrtriennale in der Bochumer Jahrhunderthalle Bernd Alois Zimmers Oper Die Soldaten zu einem Kassenschlager machte. Seine Zauberflöte ist nicht weniger aufregend und es überrascht, wie ruppig und unkonventionell der mit der Mozart-Oper umspringt. Pountney erzählt das Märchen von Tamino, der auszieht, um seine Pamina zu finden, als eine Art fantastische Götterdämmerung, als Kampf zwischen den veralteten Herrschafts-Systemen Kirche und Staat, repräsentiert durch Sarastro und die Königin der Nacht. Bei Pountney sterben sie am Ende beide. Erst in diesem Moment, als die alten Mächte sich selbst vernichtet haben, wird der Weg frei, und die Menschen Tamino und Pamina bzw. Papageno und Papagena können ausziehen, ein neues, befreites Leben zu führen. Diesem schlüssigen, vor allem aber menschenfreundlichen Zugriff ordnet David Pountney alles unter: Er erfindet neuen Text hinzu, etwa einen Monolog von Paminas Vater, lässt bedrohliche, digitale Sounds einspielen und kürzt dafür an Mozarts Musik. So fehlen in Bregenz der Finalchor des ersten Aktes sowie je eine Strophe von Sarastros Hallen- bzw. Papagenos Glockenspiel-Arie.

Dazu nutzt er alle technischen Raffinessen, die die Seebühne bereithält. Und die sind beachtlich. Natürlich ist das Bühnenbild von Johan Engels, wie in Bregenz üblich, gigantisch. Als Spielfläche dient der drehbare Panzer einer Riesenschildkröte aus dem, je nach szenischem Bedarf, 125 Grashalme aus Ballonseide und bis zu 6,7 Meter Höhe sprießen und einen traumhaften Märchenwald bilden. Umstanden wird die Schildkröte von drei bis zu 27 Meter hohen „Drachenhunden“ die mit Hängebrücken verbunden sind und die Eingänge zu den Tempeln der Weisheit, Vernunft und Natur schaubend bewachen.

Vor diesem Hintergrund verschmelzen David Pountney und seine famose Kostümbildnerin Marie-Jeanne Lecca die Grenzen zwischen real und künstlich, zwischen Oper, Maschinentheater, Zirkus und Hokuspokus zu einem schillernden Ganzen: Tamino und Papageno etwa, sind „echte“ Sänger. Die Damen der Königin der Nacht, mit denen sie es zu tun kriegen und die in Bregenz auf überdimensionalen Urzeitvögeln reiten, sind indes Puppen. Die Stimmen der Sängerinnen werden, wie auch das Spiel der Wiener Symphoniker und die Stimmen der drei Knaben, aus dem Festspielhaus auf die Seebühne übertragen. Die Sprechstimme der Königin der Nacht ist die einer Schauspielerin, die digital eingespielt wird. Ihre Arien hingegen singt die Königin live und teils in schwindelerregender Höhe von neun Metern über dem Wasserspiegel. Monostatos wiederum wird eskortiert von einem Rudel Stunt-Männer und Akrobaten, die sich kopfüber von den Hängebrücken in die Tiefe stürzen.

David Pountney und sein Team entwickeln in ihrer „Zauberflöte“ so viele optische Hingucker, dass es manchmal im dramaturgischen Gebälk ein wenig knirscht. So verschwinden die Doubles von Tamino und Pamina bei der Wasserprüfung im See, um zur Überraschung des Publikums nie wieder aufzutauchen. Ein frappanter Trick, von dem man gerne wüsste, wie er funktioniert. Nur: Kann man eine Prüfung bestehen, bei der man absäuft? Unerklärlich auch, wo Glockenspiel und Zauberflöte im zweiten Akt auf einmal wieder herkommen, wo Sarastro beide Instrumente im ersten Akt zerstört und im See versenkt hat.

Und die Musik? Die kommt in Bregenz open air erfreulich klar herüber. Hartmut Keil dirigiert die Wiener Symphoniker schlank und transparent. Dass es aufgrund der räumlichen Trennung in der Abstimmung zwischen Orchester und Sängern überhaupt nur zu wenigen Wacklern kommt, ist erstaunlich. Sensibel führt Keil die Solisten durch die knapp 140 minütige, pausenlose Aufführung. So drosselt Keil bei den vertrackten Koloraturen der Königin der Nacht für Laura Claycomb kurz aber hörbar das Tempo. Albert Pesendorfer gibt einen stimmlich profunden, charakterlich zweifelnden Sarastro. Maximilian Schmitt singt einen eleganten Tamino. Anja-Nina Bahrmann als ernste wie mädchenhafte Pamina erntet für ihre große Arie im zweiten Akt verdienten Szenenapplaus und Klaus Kuttler überzeugt stimmlich wie darstellerisch als quicklebendiger Papageno.

Und dennoch: Die Sängerinnen und Sänger, die Musiker sind in Bregenz eindeutig nicht, wie an den meisten Opernhäusern, die unumwundenen Stars. Sie stehen vielmehr gleichberechtigt neben den Puppenspielern, Akrobaten und Technikern. Das alte Kräfteverhältnis eines handelsüblichen Opernensembles scheint hier aufgehoben und so löst diese Produktion zumindest stückweise praktisch ein, was sie theoretisch fordert: Die Abkehr von den alten Mächten. David Pountneys erfrischend subversive „Zauberflöte“ fasziniert also auf viele Weise. Sie ist sicherlich nichts für Opern-Puristen und Star-Fetischisten. Für Menschen, die handfestes, pralles und sinnliches Theater mögen, ist sie ein Fest.