Übrigens …

König Lear im München, Kammerspiele

Wie es ist, ohne Macht zu leben

Johan Simons erklärte einmal, was ihn am Lear interessiert: „Leben und Tod. Dass der Mensch mehr leiden muss, als er verdient. Das Stück handelt vom Ganzen, vom Universum. Ich möchte das Gegenteil zeigen: das kindlich Einfache“. Sicherlich eine andere Konzeption des Stoffes, als Dieter Dorn sie hatte, dessen legendäre Inszenierung von 1992 mit Ralf Boysen in der Titelrolle unvergessen bleibt.
Irreführend der Artikel von Koen Tachelot im Programmheft, der vom aktuellen Münchner Lear als Bauerntheater ausgeht. Davon ist nichts an diesem Abend auf der Bühne wieder zu finden. Höchstens die fünf sauber geputzten Schweine, die fröhlich über die Bühne laufen und allenfalls die Funktion von Requisiten des Landlebens haben.

Ein rot-weiß gestreifter Stoffvorhang verdeckt die Bühne, auf ihm die Worte: „Look there! Look there!” Der Vorhang öffnet sich. Lear, mit Fuchspelz, blecherner Krone und einer an einen Dompteur erinnernden Peitsche, tritt auf eine schräg gestellte, mit Rollrasen bedeckte Drehscheibe. Von ihr aus führt ein Steg zu einem zunächst mit Streifenvorhängen, die an Strandkörbe erinnern verhängten Holzgang, quer zur Bühnenfront verlaufend, der Auftritte bzw. Abgänge ermöglicht. Lear fragt seine Töchter in barschem Tone: „Wer von Euch liebt mich am meisten?“ Der König will sein Reich an seine Töchter verteilen, wobei die, die ihn am meisten liebt, den Löwenanteil bekommen soll. Goneril und Regan, die beiden älteren Töchter, überbieten sich in Lippenbekenntnissen und fallen demütig auf die Knie. Wobei Annette Paulmann (hervorragend als kalt-berechnende Frau) und Sylvana Krappatsch (Regan) nicht verbergen können, dass sie diese Pflichtübungen nur aus Kalkül absolvieren. Marie Jung als Cordelia wirkt zumindest hier noch jungmädchenhaft und aufrichtig. Lear verstößt und enterbt die Jüngste, die nicht schmeichelte: „Ich lieb Euer Hoheit, wie es sich gehört“. Bald jedoch muss er erkennen, welchen Irrtum er begangen hat. Schmerzlich die Erfahrung, wie es ist, ohne Macht zu leben. Auch Graf Gloucester, ein Mitglied des Hofes von Lear, lässt sich von seinem illegitimen Sohn Edmund täuschen, der seinen Halbbruder Edgar verleumdet. Ebenso wie Lear erkennt Gloucester erst nach leidvoller Erfahrung die Welt so, wie sie ist.

Zweifelsohne einer der Glanzpunkte des Abends ist Thomas Schmauser als witzig-kecker Narr in roter Strumpfhose und schwarzer Narrenkappe mit einer Trompete um den Hals, in die er gern und oft stößt. Frei heraus sagt er seinem Herrn die Wahrheit: „Du hattest wenig Hirn in Deiner kahlen Krone, als Du die goldene Krone weggabst“. Er und Lears treuer Gefolgsmann Graf Kent (Wolfgang Pregler) bleiben bei dem König auch in der Stunde der Not. André Jung überzeugt als Lear insbesondere in den stilleren Momenten des Abends. Zum Beispiel, wenn er nach der stürmischen Nacht auf der Heide – Nebel, Blitz, Donner und heftiger Wind tragen zur eindrucksvollen Szenerie bei – ernüchtert in einer ebenfalls roten Hose wie sein Narr mit einer Papiertüte da sitzt, in der er nach Essbarem sucht. Um dann eine Maus mit Käsekrümel füttert, um sich anschließend in Positur zu werfen und selbstironisch zu behaupten: „Wenn ich so stehe, bebt der Untertan“. Peter Brombacher spielt den Grafen Gloucester sanft, nachdrücklich – mehr als einen Mann der leisen Töne. Seine Söhne: Edmund: Stefan Hunstein (gut als hinterhältiger, ehrgeiziger Bastard) und Edgar: Kristof van Boven. Edgar, der als verrückter Tom mit einer Art Windel-Lendenschurz auf der Heide lebt, berührt mit seiner kindlich-besorgten Liebe zum geblendeten Vater, der sich verzweifelt von den Klippen zu Dover stürzen will.

Ein überwiegend nachhaltig wirkender Lear mit hervorragenden Schauspielern, mir eindrucksvollen Bildern, aber auch mit manchen Längen. Dennoch: unbedingt sehenswert.