Fluxus und Gichtgerippe
Vor zwei Jahren war Karin Henkel mit einem Tschechow zum Berliner Theatertreffen eingeladen. In ihrem Kirschgarten am Schauspiel Köln hatte sie mit Hilfe eines grandiosen Ensembles gezeigt, dass es kein Irrtum des Dramatikers war, wenn er seine elegischen, handlungsarmen Stücke über eine erstarrende, sich selbst genügende und doch unzufriedene Gesellschaft als Komödie bezeichnete. In Deutschland konnten wir das bislang nicht glauben – fast alle Versuche, einen Tschechow betont komödiantisch zu gestalten, gingen irgendwie schief. Im Kölner Kirschgarten gelang Henkel dies zur hellen Freude des Publikums mit einer wunderbaren Leichtigkeit.
Nun inszenierte Karin Henkel Tschechows Onkel Wanja an den Münchner Kammerspielen. (Krankheitsbedingt konnte sie die Arbeit nicht zu Ende führen, und Intendant Johan Simons sprang ein; dennoch dürften die wesentlichen Aspekte von Henkels Konzept bewahrt worden sein.) Wieder bekommen wir eine Menge zu lachen; wieder findet die Regisseurin die Komödie im Stück. Aber anders als in Köln, wo Tragik und Melancholie ab und zu ebenfalls durchschimmerten, wird der Münchner Onkel Wanja im Verlauf immer mehr zu einer tieftraurigen Angelegenheit. Und anders als in Köln fehlt dem Personal der Auslauf – Platz zum Toben und zum Tanzen gibt es nicht: Die Geschichte von Onkel Wanja spielt in einem schwarzen Bilderrahmen, in einem nach hinten extrem schmalen Breitwand-Guckkasten, in dem die Schauspieler kaum Platz für ausladende Bewegungen haben und nur mit Mühe einander passieren können. In einem solchen Bühnenbild werden Charaktere ausgestellt, nicht erspielt, und gleichzeitig ist es eine Metapher für die Enge, in der sich die Figuren gefangen fühlen. Es würde gar nicht so viel Mumm dazu gehören, aus dieser Enge auszubrechen, wovon ja fast alle Personen des Dramas träumen – aber die Welt darum herum ist weit und leer, und sie müsste gefüllt werden von der Phantasie und der Energie der Ausbrechenden. Karin Henkel entdeckt aber, dass Tschechow Menschen geschaffen hat, die an einer tiefen Depression leiden. Und deren Phantasie erschöpft sich schnell, weil ihnen Energie krankheitsbedingt nicht zur Verfügung steht.
Die Langeweile, der Lebensüberdruss und die Trivialität des Landlebens sind aber spannend, wenn die Münchner Kammerspieler sie spielen. Bei den meisten Wanja-Inszenierungen denkt man, das Stück müsse eigentlich „Astrow“ heißen – der überzeugte Öko-Grüne, Arzt und schwere Alkoholiker ist vielleicht die interessanteste, sicher aber die aktuellste Figur des Stückes und bietet von allen Rollen das beste Schauspielerfutter. Nicht so in München: Maximilian Simonischek gibt den Doktor ausschließlich als einen depressiven Säufer; nicht einmal seine aufdringlichen erotischen Interessen bei der neuen Gutsherrin Jelena Andrejewna wirken energetisch. Diese Jelena (Wiebke Puls) sticht optisch im langen knallroten Ballkleid zwischen all den müden grau-braunen Gestalten hervor, die das Innere des Bilderrahmens bevölkern – eine stolze, harte Frau, illusionslos, aber Haltung bewahrend. Gelangweilt letztlich auch sie. Wie Wanja, der meist an der Rampe sitzt und die Beine aus dem Bilderrahmen baumeln lässt, depressiv, mit leerem, traurigem Blick. Benny Claessens gibt die Titelfigur so zurückgezogen und in sich gekehrt, dass das ihm eigene, auf deutschen Bühnen unverwechselbare Charisma diesmal ausbleibt. Der Gefahr, dass die Langeweile der Figuren auf das Publikum übergreift, entgeht er dennoch mit gelegentlichen sarkastischen Bemerkungen, und sein leichter flämischer Akzent gibt seinen pessimistischen Sätzen über das Leben im Allgemeinen und die Wissenschaft im Besonderen Witz. „Bei so einem Wetter wäre es schön, sich aufzuhängen“, spricht er Original-Tschechow, und fährt fort: „Mir scheint, so langweilig war es bei uns noch nie. Mal sitzt man, und mal steht man“ – und dann erhebt sich der junge, schwere, rundliche Mann; unendlich langsam, unendlich mühsam richtet er sich auf. Es sind solche Szenen, die bei Karin Henkel auf so eigenwillige, faszinierende Weise das Komödiantische mit dem Tieftraurigen verbinden.
Da es auf der engen Spielfläche aber nicht um die detailgenaue psychologische Ausgestaltung der Figuren geht, sind es die extremen Typen, die die größte Wirkung entfalten: der im Ruhestand auf sein altes Gut zurückgekehrte Professor Serebrjakow und Sonja, seine Tochter aus erster Ehe. Serebrjakow wird gespielt von einem alten Hasen, einem der routiniertesten Schauspieler der Münchner Szene, und Sonja von einer jungen Schauspielschülerin, die, man glaubt es kaum, diese Rolle erst zwei Wochen vor der Premiere Hals über Kopf übernommen hat. Stephan Bissmeier gibt den vormals angeblich in höchsten wissenschaftlichen Sphären schwebenden, aber heute nur noch hohl, starr und egozentrisch wirkenden Professor mit marionettenhaften Bewegungen als „Gichtgerippe“ (Wanja über Serebrjakow), typisiert und stilisiert bis dass einem Erinnerungen an die Augsburger Puppenkiste kommen. Grandios, auch wenn er gegen Ende die Langsamkeit und das Selbstmitleid in einem Maße übertreibt, dass man im Publikum ungeduldig wird. Die Entdeckung der Aufführung aber ist die 23jährige Anna Drexler als Sonja. Mit dicker Brille, schweren, fast formlosen Bauernstiefeln und einem unsäglich hässlichen braunen Sackkleid ist sie alles andere als attraktiv, doch mit welcher traumwandlerischen Sicherheit sie den Ton zwischen Naivität und bauernschlauem Humor, zwischen Depression und resigniertem Aufstand, zwischen Spießertum und Aufbegehren trifft, ist phänomenal. Völlig unaufdringlich und mit großer Zurückhaltung vermag Drexel den Zuschauer mit kleinsten Gesten und marginaler Mimik zu rühren und im nächsten Moment zum Lachen zu reizen; bezüglich ihrer Sprechtechnik und Intonation scheint die junge Schauspielerin ein wenig auf die große Münchner Kollegin Annette Paulmann zu schielen. Johan Simons, der an den Münchner Kammerspielen ohnehin schon eines der besten Ensembles der deutschsprachigen Theaterlandschaft beisammen hat, hat mit Anna Drexler ein Vögelchen gefangen, das seinen Zoo noch bunter und noch attraktiver als zuvor machen dürfte…
„Why did you get up this morning?“, stand zu Beginn auf dem Laufband am oberen Ende des Bilderrahmens, auf dem während der gesamten Aufführung mal mehr, mal weniger einleuchtend Zitate des Fluxus-Künstlers Robert Filliou in Beziehung zum Stück gesetzt werden. Morgendliches Aufstehen ist eine der schwer zu bewältigenden Aufgaben des depressiven Menschen. Wunderbar führen Karin Henkel und Johan Simons uns die Depression der Gesellschaft des russischen Bildungsbürgertums am Ende des 19. Jahrhunderts vor. „Why even pretend?“, heißt es da, und auf dem Schlussvorhang steht: „Where do we go from here?“ Welche Hoffnungslosigkeit, welche Zukunftslosigkeit, in die uns diese Inszenierung, die so komödiantisch begonnen hatte, entlässt…