Übrigens …

Hamlet im Burgtheater Wien

Das Problem namens Wahrheit

Der große, mit Mahagoni verkleidete Raum mit der langen Tafel ist verwüstet. Das Tischtuch ist heruntergerissen, Degen liegen auf dem Boden verteilt, Chaos.

Leblose Körper in grotesken Verrenkungen sind Zeugen für das Rad der Intrige und des gegeneinander Ausspielens, das, sich immer schneller drehend, in diesem grausamen Bild sein Ende fand. Die Schlacht ist geschlagen. Der König ist tot. Doch Hamlet, der Prinz von Dänemark, musste diesen Tod mit dem Leben bezahlen. Einzig Horatio, sein Freund, kann nun weitergeben, wie es zu solch ausufernden Taten, zu Morden, herbeigeführt durch List und Tücke, kam, wie solch ein Grauen geschehen konnte.

Andrea Breth beschönigt daran nichts. Sie lässt spielen, was da ist: Die ungekürzte Hamlet – Fassung von August Wilhelm Schlegel, knapp sechs Stunden lang, ein packender Theater- Thriller.

Als Hamlet aus dem protestantischen Wittenberg vom Studium zum Begräbnis seines Vaters an den Hof zurückkehrt, gerät er in einen schieren Alptraum. Claudius, der Bruder des Verstorbenen, steht im weißen Anzug und mit gespielt betrübter Miene am Mikrofon des mit Klappstühlen bestückten und holzvertäfelten großen Saales mit den hohen Decken und teilt mit, er habe jetzt des Bruders Amt übernommen und seine Witwe geehelicht.

Auf einem Stuhl ganz außen lümmelt der Prinz herum. Als er erfährt, dass er den Hof nicht wieder Richtung Wittenberg verlassen darf, bricht eine trotzige, eine pubertäre Reaktion aus ihm heraus, er wirft sich auf den Boden, er schluchzt, umarmt Stuhlbeine. Hamlet mag Claudius nicht. Allerdings hat er gegen ihn als König keinerlei Einwände, aber er spürt, dass unter dem Deckmantel des höfischen Lebens ein Verbrechen, ein Mord verborgen liegt. Der Auftritt des väterlichen Geistes schockiert den Prinzen dennoch – seine Ahnung wird jetzt ein Fakt. Mit der Wahrheit kommt das Problem, nein, das Dilemma: Hamlet weiß, dass der Mord an Claudius das Problem nur kurzfristig lösen würde, denn er lebt in einer Gesellschaft, die von der Wurzel an getrieben ist von Spiel, Maskerade, Intrige und List. Die Fäulnis, die Krankheit im Staate Dänemark wäre so nicht geheilt. Und außerdem: Ist der Schritt, einen Mord durch einen Mord zu rächen, moralisch vertretbar? Hamlet wählt, um dem Auftrag des Geistes nachzukommen, die Maske des Wahnsinns. Der Stein kommt ins rollen – und ist irgendwann nicht mehr kontrollierbar.

August Diehls Hamlet ist eine schauspielerische Offenbarung. Er legt die Figur nicht fest - der Prinz ist weder schlicht ein Wahnsinniger noch nur ein Melancholiker oder ein Narr. Diehls Hamlet ist zersplittert, er kämpft nicht nur gegen die Gesellschaft, in der er gezwungen ist zu leben und die er nicht mittragen möchte, sondern auch gegen sich selbst. Hysterisch, wahnsinnig, zärtlich, aggressiv, manchmal sogar ein wenig pubertär – in jedem Augenblick ist die Figur eine andere und Diehl gelingt dieser Facettenreichtum meisterhaft.

Er wälzt sich in einem Moment trotzig und wütend auf dem Boden herum, weil er sein Studium nicht fortsetzen darf, um im nächsten seiner Mutter gnadenlos rasend ihre plötzliche und schamlose Heirat mit dem Bruder ihres verstorbenen Gatten vor die Füße zu schleudern, ihr an die Gurgel zu gehen – eine Gratwanderung zwischen Irrsinn und Sinn, höchst anspruchsvoll, physisch und psychisch enorm anstrengend – und mit einer Extraportion Lob zu versehen, da Andrea Breth ihren Hauptdarsteller vor Stückbeginn mit einer schweren Fußverletzung ankündigen musste.

Als unmittelbarer Gegenpol steht Hamlet Roland Koch als Claudius gegenüber, der stets in feine Stoffe gewandet das Kunststück vollbringt, die Figur nicht schlicht als ruchlosen Mörder über die Bühne flanieren zu lassen. Roland Koch spielt Claudius als Strategen, elegant, würdevoll, ohne dabei vergessen zu lassen, welch grausame Tat dieser Mann zu verantworten hat.

Die Frau an seiner Seite verkörpert die große Andrea Clausen; seit Jahren ein festes Mitglied der Brethschen Schauspielerfamilie. Ihre Gertrud wirkt im Vergleich zu Koch und Diehl allerdings ein wenig farblos; Clausen ist ein wenig zu hysterisch, ein wenig zu gönnerhaft – einzig in der Szene, in der Hamlet die Mutter mit ihrer geschmacklosen und vorschnellen Heirat konfrontiert, entwickelt sich ein Spannungsbogen, der den Saal in Atem hält und hoffen lässt, dieser Streit würde niemals enden.

Das Königspaar sucht auf Veranlassung Claudius` den scheinbar dem Wahnsinn verfallenen Sohn zu beobachten – und verbünden sich mit dem Ersten Minister von Helsingör, Polonius, dessen Tochter Ophelia scheinbar des Prinzen Objekt der Begierde darstellt. Polonius verkörpert gewissermaßen das Intrigantentum des dänischen Hofes, hübsch verborgen unter einem Mantel aus Fleiß, Disziplin und immer neuen Ideen, mit denen er Claudius in die Hände spielt, um daraus Profit zu ziehen.

Hamlet widern diese Verhaltensweisen an; er ist der Einzige, der das Spiel zu durchschauen scheint und verachtet den ersten Minister dafür zutiefst.

Udo Samel ist ein Polonius, der sich vordergründig in seinen Plattitüden ergeht, gewissenhaft darauf bedacht, des Prinzen Wahn in Schach zu halten und einzig für das Wohl des Staates zu agieren, um hinterrücks auf seinen eigenen Vorteil bedacht sogar seine Tochter für seine Ziele zu instrumentalisieren und zu manipulieren.

Es ist großartig anzusehen, wie der kleine Udo Samel und der große August Diehl sich - nur Millimeter voneinander entfernt stehend – einen provokanten Schlagabtausch über die Form der Wolken am Himmel liefern. Das Verhältnis Polonius–Hamlet gleicht einem Schnellkochtopf, der jeden Moment dem Überkochen nahe ist.

Da Andrea Breth sich weigert, von diesem „Weltwunder“, wie sie das Stück bezeichnet, auch nur einen Vers zu streichen, ist auch jede noch so kleine Rolle in der für sie typischen Akribie besetzt. Doch was sich eigentlich stets mehr als zuträglich für ihre Inszenierungen darstellt, hat in diesem Fall eine hemmende, verwirrende Wirkung. Aufgrund der hervorragenden Leistungen von August Diehl, Roland Koch und Udo Samel wirken die anderen Darsteller vergleichsweise schwach oder gehen schlichtweg unter – wie etwa Wiebke Mollenhauer, die als Ophelia mit ihrer Mauerblümchen-Attitüde gegen einen August Diehl einfach nicht ankommt.

Martin Zehetgruber, der 2004 für Andrea Breth das schlichtweg geniale Bühnenbild für Don Carlos entwarf, schafft für diese Inszenierung auf der Drehbühne der Burg eine starre, kalte Festung aus mahagonivertäfelten, mit hohen Decken ausgestatteten Seminarräumen, mit Ledersofas und Mikrofonen, Aquarium und Laptops. Die Verbindung zur Außenwelt besteht aus einem von innen verschließbaren Atrium; Gestrüpp, Nebel, ein kleiner Teich und das von Wolfgang Mitterer komponierte Arrangement dunkler, leicht wummernder Hintergrundklänge festigen den Eindruck der kalten, fast seelenlos wirkenden Atmosphäre.

Über die Länge der Inszenierung lässt sich streiten. Die Grundidee der Regisseurin aber, das Stück nicht beschneiden und dem Publikum diese Aufnahmefähigkeit zutrauen zu wollen, möge manche Skeptiker ein wenig besänftigen. Als um kurz nach Zwölf an diesem Premierenabend der Vorhang fällt, gibt es frenetischen Applaus. Und ein Küsschen der Großmeisterin Breth an ihren genialen Hauptdarsteller.