Übrigens …

Die heilige Johanna der Schlachthöfe im Hessisches Landestheater Marburg

Episches Theaterglück

Galeria Classica heißt die neue, zusätzliche Spielstätte des Hessischen Landestheaters und ist sicher einer der ungewöhnlichsten Spielorte der deutschen Stadttheaterlandschaft. Bis vor kurzem wurden hier noch Sportwagen verkauft. Das schmucklose Gebäude mit der modernistischen Glasfassade ist nichts als ein zweigeschossiger, quadratischer Showroom. Unten Kasse, Foyer, Café, oben ein kleiner Ausstellungsraum und eine große Raumbühne, ein Ort wie gemacht für Brechts Heilige Johanna der Schlachthöfe.

Die fünf Schauspieler begrüßen das Publikum mit Rote-Bete-Eintopf in kleinen Plastiktassen, süß, dünn, aber schmackhaft. Nachdem die Tassen eingesammelt sind, beginnt das Spiel. Vorne ein improvisierter Küchenblock als Heilsarmee-Kantine, dahinter drei Reihen Metallspinde. Noch weiter hinten hängen künstliche Rinderhälften von der Decke. Fressen. Arbeit. Schlachthof. Wir sind sofort mitten drin. Die junge, herzliche, kluge und sehr naive Heilsarmistin Johanna appelliert an die Menschlichkeit des Fleischmoguls Mauler. Sie setzt damit eine ethisch-politisch grundierte Nebenhandlung in Gang, die der Haupthandlung, die eher eine kleinteilige, grobe und doch ausdifferenzierte Analyse ökonomischer Abläufe ist, immer wieder produktiv zwischen die Beine gerät, bis sie durch Johannas Tod gleichsam ausgemerzt wird.

Es ist eine grandiose Aufführung, kraftvoll, ironisch, zart, voll brennender Energie. Regisseur Marc Becker lässt Brechts Alltagssprache geradezu auf seinen Blankversen explodieren. Die Kostüme von Alin Perez sind aus schwarzem und weißem lackglänzenden Kunststoff und schützen die Schauspieler – wörtlich gesprochen – unterschiedlich gut vor materiellen Anwürfen (etwa von Rote-Bete-Suppe). Die Spinde dienen als Requisitenablage, Umkleide, sporadisch auch als Auf- und Abtrittsmöglichkeiten. Immer wieder wird mit Küchengeräten Krach gemacht oder ein Lichtwechsel ausgelöst. Dagegen setzt Marlene Hoffmann, die zu Herzen gehende Johanna, immer wieder ruhige, fast meditative Keyboardklänge, aus denen sich stets wie von selbst die Melodie von „Stairway to Heaven“ entwickelt. Und Daniel Sempf, der gleich sieben Rollen High-Energy-Bühnenleben schenkt, zirpt immer mal wieder mit einer kleinen Gitarre. Auch Tom Bartels und die überragende Victoria Schmidt fesseln in mehreren Rollen. Michael Köckritz trägt als Mauler seinen Lackanzug wie eine Rüstung. Er möchte ein guter Mensch sein. Aber Geld muss er auch haben. Viel. Natürlich. Wir kennen das. Jetzt noch etwas besser.

Das Wunder ist, dass dieses, gerade in seiner Schlussbotschaft, grausig provokante Stück so heutig wirkt. Dass die Probleme, Nöte, Bedürfnisse und Sehnsüchte dieser Figuren so nachvollziehbar sind. Dass die emotionslos ablaufenden, die Menschen vereinnahmenden wirtschaftlichen Prozesse sich offenbar nicht wesentlich geändert haben. Vor allem aber, dass die Aufführung überzeugend belegt: Der umstrittene Brecht ist gar nicht alt geworden. Trotz seiner wilden, oft menschenverachtenden Thesen und seiner verkopften Theorien bleibt er einer der ganz großen Menschenkenner und –erfinder des 20. Jahrhunderts mit einer fast kindlichen Sehnsucht nach dem Echten und Guten, nach der Freundlichkeit.

Wandrer, kommst du nach Marburg, besuche nicht nur das Schloss und die Elisabethkirche, genieße nicht nur die Altstadt mit ihren herrlichen alten Häusern und dem studentischen Flair. Wandrer, geh ins Theater!