Wenn die Gabel im Salat erstarrt
Selbst die Gabel im Salatbecher erstarrt. Ich habe es nicht rechtzeitig geschafft, die Bühne der Stadsschouwburg Amsterdam zu verlassen, und setze mich auf einen der Sitzwürfel in Jan Verseyvelds großzügiger moderner Wohnlandschaft. Vorn an der Rampe steht Hans Kesting, Ivo van Hoves grandioser Markus Antonius, flankiert von ein paar Senatoren, und beginnt seinen Monolog: „Begraben will ich Cäsar, nicht ihn preisen…“ Leise, voll tiefer Trauer. Auf Niederländisch. Die Sprache spreche ich nicht, doch heute verstehe ich sie. Der Salatbecher sinkt nieder, und die Gabel steckt fest wie in Beton zwischen geschmacklich perfekt abgestimmten Penne, Rucola und Oliven. Meine Kehle schnürt sich zu. „Was Menschen Übles tun, das überlebt sie, / Das Gute wird mit ihnen oft begraben.“ Mein Gott, wie schnell hat uns dieser Hans Kesting in seinem rhetorischen Würgegriff!
Doch Brutus hat gesagt, dass er voll Herrschsucht war … „Er (Cäsar) brachte viel Gefangne heim nach Rom, / Wofür das Lösegeld den Schatz gefüllt. / Sah das der Herrschsucht wohl am Cäsar gleich?“ Unruhe bemächtigt sich meiner. Ich sitze mitten im Geschehen auf der Bühne und bin einer der Bürger Romas. Unruhe bemächtigt sich auch der Senatoren, die Mark Anton zuhören. „Wenn Arme zu ihm schrien, dann weinte Cäsar…“ Von meinem Platz aus kann ich Mark Anton nur von hinten sehen – oder von vorn auf einem der großen Flachbildschirme, die die Wohnlandschaft bevölkern. Gespannt harre ich der Reaktion von Antonius‘ Begleitern: Aufgeregt flüsternd ziehen sie sich zurück in die hinteren Regionen der Bühne, werden handgreiflich gegen einander. Was im Parkett vermutlich kaum jemand wahrnimmt. Ich aber sitze ganz nah daneben – und höre Mark Anton: „Ihr alle saht, wie am Lupercusfest / Ich dreimal ihm die Königskrone bot, / Die dreimal er geweigert. War das Herrschsucht? / … / Ihr liebtet all ihn einst nicht ohne Grund; / Was für ein Grund wehrt euch, um ihn zu trauern? / O Urteil, du entflohst zum blöden Vieh, / Der Mensch ward unvernünftig!“ – Längst füllt die Stimme des begnadeten Redners Antonius den riesigen Raum, was für ein Appell, mit was für einer Emotion mischt Cäsars Freund uns auf! Längst ist mein rebellisches Blut erwacht, und dass der Salatbecher nicht gegen diesen blassen, zynischen Exekutor der Macht, gegen Roeland Fernhouts Brutus und seine Mordgesellen fliegt, ist nur dem unbändigen Hunger geschuldet – Ivo van Hoves Romeinse Tragedies dauern schließlich sechs volle Stunden.
Mark Antons berühmter Monolog aus Shakespeares Julius Cäsar ist einer der Höhepunkte des so langen wie kurzweiligen Abends, Hans Kesting der Superstar unter den vierzehn Schauspielern des brillanten Ensembles. Aber was heißt schon Höhepunkt, was heißt schon Superstar in dieser in jeder Hinsicht einzigartigen, herausragenden Inszenierung. Ivo van Hove zeigt William Shakespeares römische Tragödien Coriolan, Julius Caesar und Antonius und Cleopatra an einem einzigen Abend, und sie kommen uns so nah wie nie zuvor. Das Alte Rom und seine ganze Intrigenwirtschaft – das ist heute, hier, in Amsterdam oder Berlin, in London, Kiew oder Moskau. Im 21. Jahrhundert, in unserer digitalen Welt.
Coriolan. Der Kriegsheld. Der General der Patrizier, der mit Arroganz und Verachtung auf Plebejer und Volkstribunen hinabblickt. Der Krieg gegen die Volsker, in dessen Folge er Konsul wird. Das Bündnis mit dem Feind, mit dem Volsker-General Aufidius (ein weiteres schauspielerisches Highlight: Bart Slegers). Der Kampf um Rom. Und am Ende: Coriolans Ermordung.
Julius Caesar. Bürgerkrieg in Rom. Verschwörung gegen Cäsar, den Wohltäter und Tyrannen der Stadt. Cäsars Tod, Volksaufstand. Selbstmord von Portia, der Gattin des Brutus. Schlacht bei Philippi. Tod des Cassius. Selbstmord des Brutus.
Antonius und Cleopatra. Das einzige Shakespearesche Römer-Drama, das eine Liebesgeschichte beinhaltet. Chris Nietveld, die schon bei Julius Cäsar in der Nebenrolle der Caska überzeugt hatte, gibt die Cleopatra zunächst mit breitem bäuerlichem Niederländisch als naive verliebte Schickse – und dann als elegante, ihres Ruhms und ihrer königlichen Herkunft bewusste Dame von Welt. Krieg von Mark Anton und Octavius Cäsar gegen Pompeius. Seeschlacht von Antonius gegen Octavius Cäsar. „Spektakulärer Tod von Enobarbus“, macht Hallensprecher und Kriegsberichterstatter Tom Kleijn uns lange zuvor den Mund wässrig. Selbstmord von Antonius, Selbstmord von Cleopatra.
Kriege also. Kriege und Tote, Morde und Selbstmorde. Kein niederländisches Wort lernen wir an diesem Abend so schnell wie „Oorlog“ – Krieg. Rechts und links an der Rampe der riesigen Bühne stehen gigantische Trommeln und ein umfangreiches Schlagzeug, auf denen mit unbändiger Kraft herumgehämmert wird, wenn wieder einmal Krieg herrscht. Da wackeln die Sitze im Parkett; Blitze fahren aus den Scheinwerfern des Bühnenlichts, Lichteffekte erschrecken uns. Für die Toten gibt es in der Mitte der Bühne einen Schlitten: ein kleines hartes Bett, auf das die Ermordeten getragen werden und auf das sich die Selbstmörder stürzen. Whoom, macht Eric Sleichims Sound Design; die Leiche wird von oben fotografiert, auf dem riesigen Bildschirm über der Bühne eingeblendet und eine Leuchtschrift zeigt wie ein Epitaph Name, Geburts- und Todesjahr des Verstorbenen an. Und ab geht’s mit dem Schlitten nach hinten.
So spektakulär der wiederkehrende Sound des Todes ist, so unspektakulär erfolgen die Morde selbst. Doch keine Angst: Wir werden sie nicht verpassen. Die Todesfälle strukturieren die Aufführung; sie sind die Events einer langen Geschichte, während derer wir den Theaterraum niemals verlassen werden. „Noch 20 Minuten bis zum Tod von Coriolan, noch 80 Minuten bis zum Tod von Cäsar, noch 100 Minuten bis zum Tod von Cassius, noch 120 Minuten bis zum Tod von Brutus, noch 200 Minuten bis zum Tod von Antonius, noch 240 Minuten bis zum Tod von Cleopatra“, kündigt das Laufband mit der roten Schrift an – und fünf Minuten vor dem letalen Ereignis setzt der Countdown ein. Dann geht keiner mehr Salat kaufen oder aufs Klo: Niemand will den Tod verpassen. Wir haken ab – wieder eine Leiche geschafft. Auf zum nächsten Höhepunkt.
Das mag zynisch sein, entspricht aber heutigen Rezeptionsgewohnheiten. Und lässt die sechs quasi pausenlosen Stunden nicht langweilig werden. Die Pausen sind die Umbaupausen; die sind zahlreich und meist zwischen drei und fünf Minuten lang. Dann gehen wir auf die Bühne. Mit Ausnahme der ersten und der letzten Szene können wir uns während der Aufführung in den Sofas und auf den Sitzwürfeln des Bühnenbildes niederlassen und das Geschehen von dort verfolgen. Hinten links und in der Mitte rechts gibt es on stage eine Getränke-Bar, vorn rechts kann man Salat oder Kaffee und Kuchen ordern. In der Mitte links ist eine Make-up-Station, an der sich die Schauspieler, aber bei entsprechenden Kapazitäten auch die Zuschauer(innen) schminken lassen können. Hinten rechts stehen ein paar Laptops, von denen aus die Zuschauer ihre Gedanken und Kommentare zur Inszenierung twittern können. Sie dürfen auch ihre Mobiltelefone dazu nutzen, sofern sie lautlos gestellt sind. „Uw reacties“ werden dann auf dem Laufband mit der Schrift eingeblendet: Ein Brian Eno Fan twitterte ausgesprochen passend: „Theatre for Airports“. Denn die Wohnlandschaft ist wohl eher eine Flughafen-Lounge. Oder ein Medienzentrum mit unzähligen Flachbildschirmen. Ohne diese und den Riesen-Schirm über der Bühne wäre der Zuschauer aufgeschmissen, denn niemals kann er alle Orte einsehen, an denen gerade etwas geschieht. Von Zeit zu Zeit ertönt ein Jingle der niederländischen Tagesschau, und dann wieder flimmern die Kriegsberichte aus dem Alten Rom über die Schirme. Die niederländische Marietta Slomka interviewt die Kriegshelden: Aufidis stellt sich dem gern, Coriolan wendet sich schnell wütend ab. Obama, David Cameron, der Hurricane von Oklahoma sind zu sehen. Untergehende Städte und Landschaften. Die Nachrichten vom Tage flattern über die Headline-Leiste, heute die vom 19. Dezember. Und die historischen Zusammenhänge – wer führt da gerade gegen wen Krieg und warum? Wer weiß das schon von uns heutigen Shakespeare-Dramen-Konsumenten?
Kriege und Tote, Morde und Selbstmorde. Das hat etwas Unerbittliches in Ivo van Hoves Inszenierung – aber auch etwas Selbstverständliches: Es wird abgehakt. Das ist der Gang der Geschichte: Kriege, Morde, politische Intrigen. Shakespeares römische Helden-Tragödien – das ist heute. Da wird in Business-Anzügen gespielt; da ziehen sich Politiker im Tagungszentrum in Konferenzräume und Gesprächsecken zurück; im intimen Gespräch werden Intrigen gesponnen; für die Öffentlichkeit werden feine Reden geschwungen. Vordergründig geht es oft gesittet zu, hintergründig eher fies – und manchmal ist es wie im ukrainischen Parlament und die Streithähne gehen sich physisch an den Kragen. Nicht nur weil live getwittert wird, ist dies ein „Real Time Polit Drama“. Rasant, unterhaltsam, hochaktuell. Technisch auf dem allerneuesten Stand, schauspielerisch und von der Kreativität der Inszenierung ohne Worte: einfach sagenhaft. Es mag lächerlich sein, die legendäre Inszenierung sechseinhalb Jahre nach ihrer Premiere noch in theater:pur zu rezensieren. Aber: sie war zu Gast in Wien, in Avignon, in Antwerpen, in Zürich, in Breslau, in London, in Montreal, in Quebec, in New York und in Barcelona. Im Februar 2014 gastiert sie im australischen Adelaide. Aber sie war noch nie in Deutschland. Sie schreit geradezu nach einer Aufführung bei der Ruhrtriennale. Die Jahrhunderthalle wäre der perfekte Ort. Oder vielleicht… der Bundestag?