Übrigens …

Oedipe im Frankfurt, Oper

Der Vater pinkelt auf den Sohn

Immer schon war der Oedipus-Mythos eines der Hauptthemen von Hans Neuenfels, im Musiktheater seit seiner ersten Operninszenierung, dem Nürnberger Troubadour, mit einer erotisch forcierten Mutter-Sohn-Liebesbeziehung zwischen Azucena und Manrico. So gesehen schien gerade dieser Stoff ideal für Neuenfels’ Heimkehr in seine langjährige Wahlheimatstadt Frankfurt, um hier an seine Erfolge in der Ären Dohnanyi und Gielen anzuknüpfen.
Aus seinem größten Frankfurter Opernerfolg, der Aida, zitiert Neuenfels die Idee des Archäologen. Wie dort Radames, so ist auch der titelgebende Ödipus in seiner Inszenierung zunächst ein die Wahrheit suchender Archäologe, der seiner eigenen Geburt beiwohnt: aus einem übergroßen, innen blendend (!) golden strahlenden Ei, welches aus den Schnürboden herabgelassen wird.
Doch der Forscher und Wahrheitssucher vergisst, was er bei der königlichen Kindergeburts-Feier erlebt hat, insbesondere die Prophezeiung, dass Oedipus seinen Vater töten und seine Mutter Jokaste heiraten werde. Nun verkörpert er selbst jenen ausgesetzten und zum Tod verurteilten, aber geretteten Königssohn, der die gefährliche Sphinx besiegt, sich angesichts der Erkenntnis seines Handelns blendet, seine Stadt Theben zu deren Rettung vor der Pest verlassen und an der Hand seiner Tochter emigrieren muss.
Wenig bekannt ist über den Librettisten dieser Oper, zumal der Nachlass des 1874 geborenen jüdischen Autors Edmond Fleg (eigentlich Flegenheimer) gestohlen wurde und nie wieder aufgetaucht ist.
Während im Zuge der Globalisierung der Opernkultur auch an kleinen Theatern immer häufiger in Originalsprache gesungen wird – selbst wenn dort weder Sänger noch Publikum diese Sprache verstehen – und die Komische Oper Berlin ihr Alleinstellungsmerkmal deutschsprachiger Aufführungen verloren hat, bietet die Frankfurter Oper Enescus Tragedie lyrique auf Deutsch, in einer neuen Übersetzung des als Gastdramaturg fungierenden Henry Arnold.
Der Übersetzer beruft sich darauf, dass die Wahl der französischen Sprache durch den rumänischen Komponisten und seinen aus dem Elsass emigrierten deutschsprachigen Librettisten durchaus zufällig erfolgt sei, und er betont zu Recht Enescus Forderung, der Zuschauer müsse den Text verstehen.
Arnold ist eine präzise, gut sangliche Übersetzung gelungen, gleichzeitig hat er die Partitur in den ersten drei Akten deutlich gekürzt und den vierten Akt, bis auf wenige in den dritten Akt integrierte Verse des Oedipe, komplett eliminiert. Denn dem Regieteam war der versöhnliche Schlussakt mit seiner breit erörterten Thematik von Schuld, Sühne und Erlösung als ein christianisiertes Anhängsel entbehrlich erschienen.
Die Frankfurter Erstaufführung des Oedipe rauscht somit, auf einhundert Minuten verdichtet, pausenlos vorüber.
Trotz deutlicher Diktion von Ensemble und Chor der Frankfurter Oper und verblüffend angesichts früherer Übertitelungs-Vetos des Regisseurs, sind die gesungenen Texte über dem Bühnenausschnitt mitzulesen und werden darüber hinaus bisweilen in vergrößerter Form auch ins Bühnenbild selbst projiziert. Dort überlagern aber auch analytisch-kritische Texte des Regisseurs jene unendlichen Reihen und Formeln der Biochemie, welche der Zuschauer wohl nicht lesen, sondern nur als ein grafisches Element wahrnehmen soll. Denn der Bühnenraum von Rifail Ajdarpasic zeigt die Welt als Lehranstalt, in Form unendlicher Schullehr-Meinungen auf kreideweiß beschrifteten, staffelnd den Raum füllenden Schultafeln. Leuchtende Pfeile, wie im Flugzeug, scheinen die Richtung der Lehrmeinung vorschreibend zu intensivieren. Doch ein leerer weißer Türrahmen führt nicht in einen anderen (Erkenntnis-)Raum, sondern lässt den Durchschreitenden stets wieder im selben Raum ankommen.
Zehn schwarze Lemuren in Popkultur-Outfit – der Neuenfels-spezifische Bewegungschor – schlagen optisch den Bogen zur Gegenwart. Auf die Antike verweisen die Tore Thebens in Form der griechischen Zahlen „I, II, III“.
Aus seinem königlich gigantischen Penis pinkelt Laios (Hans-Jürgen Lazar) auf seinen Sohn, der unerkannt, als ein vermeintlicher Bettler und Fremder, vor ihm liegt. Dass der ihn dafür mit einer Keule erschlägt, erscheint nachvollziehbar.
Die Sphinx deutet Neuenfels als ein androgynes Problem: skorpionhaft scharfe Penisse tragende, transsexuelle Verführerin. Ödipus saugt an ihrem dreischwänzigen Gemächt und weiß kraft dieser Flüssigkeit Antwort auf deren Frage, was größer sei als das Schicksal: „Der Mensch! Der Mensch ist stärker als das Schicksal!"
Der Dialog des Ödipus mit der Sphinx erscheint menetekelhaft an der Wand. Als Lehrveranstaltung, mit Ödipus als Dozenten, ist die Diskussion über die Pest in Szene gesetzt.
Für die Damen hat Elina Schnizler traumhaft schöne Kostu?me geschaffen, weniger Einfallsreiches jedoch für die Herren, und den Chor hat sie in archaisierend scholastisches Schwarz gehüllt, mit Unisex-Röcken und -Kappen. Angesichts seines Flokatiteppich-Anzugs erntet der Hirte (Michael McCown) beim ersten Auftritt einen Lacher, dann hat sich dieses Mittel verbraucht.
George Enescu, 1881 in Moldawien geboren, wurde früh als Violin-Wunderkind gefeiert. Bereits mit 14 Jahren studierte er am Wiener Konservatorium, reüssierte dann als Klaviervirtuose und Dirigent. Nach einem Schlaganfall im Jahre 1954 konnte er seine Kompositionen nur noch diktieren: ungenannt hat ihm der Film Cloud Atlas nach David Mitchells Roman mit der Person des Komponisten Vyvyan Ayrs ein Denkmal gesetzt.
Enescus 1936 an der Opéra Garnier in Paris uraufgeführte, einzige Opernpartitur umfasst mehr als ein Vierteljahrhundert Entstehungszeit. Sie fußt mit ihren tonalen Bezügen in der Spätromantik, bietet aber eine Reihe von Überraschungen, etwa eine in der Sphinx-Szene faszinierend eingesetzte Viertelton-Technik.
Obgleich Schärfen und Schönheiten dieser Partitur durch das Frankfurter Opern- und Museumsorchester patchworkartig aufblitzen, wirkt die Lyrische Trago?die in der Interpretation von Alexander Liebreich, der offenbar keinen rechten Zugang zu dieser Musiksprache gefunden hat, dürftig. Dies ist deutlich zu wenig an jenem Opernhaus, an dem Michael Gielen mit analytisch nachschöpferischer Umsetzung musikdramatischer Partituren Maßstäbe gesetzt hat – außerhalb Frankfurts übrigens auch mit einer Interpretation von Enescus Oedipe.
Die sängerischen Leistungen der Frankfurter Erstaufführung sind breit gefächert. Exzessiv und textverständlich verkörpert Simon Neal die grenzüberschreitende Titelpartie, wobei ihm die Gestaltung seines Erkenntnisprozesses besonders  eindrucksvoll gelingt, während er angesichts der zentralen Frage der Willensfreiheit mehr als einmal stimmlich die Grenzen der Hygiene überschreitet.
Im fahrbaren Geviert als ein Gezeichneter wird Magnús Baldvinsson,  der die Wahrheit sagende Tiresias, auf die Bühne gefahren, und wie einen Bruder Rigolettos gestaltet Kihwan Sim den Phorbas. Zielstrebig arbeitet Dietrich Volle als Kreon auf seine Herrschernachfolge hin, imposante Rollencharaktere bieten Andreas Bauer als Wächter und der schwarze Vuyani Mlinde als Oberpriester. Übertroffen wird das Gros der männlichen Kollegen von einer wahrhaft königlichen Damenriege, mit Tanja Ariane Baumgartner als Jokaste, Jenny Carlstedt als Merope und Britta Stallmeister als Antigone. Überragend an Intensität und mit traumhaft schönem Gesang gestaltet Katharina Magiera die Sphinx.
Stimmgewaltig und textintensiv singen der von Matthias Ko?hler einstudierte Chor und Extra-Chor, wie in der Bayreuther Lohengrin-Inszenierung dieses Regisseurs belebt durch häufige Auftritte und -Abgänge. Einige Choreinsätze erfolgen auch hinter der Szene und manche sind in dieser Fassung reduziert auf eine solistische Ausführung.
Anstelle der Erlösung des schwellfüßigen, blinden Helden an der Hand seiner Tochter auf Kolonnos, bietet der Regisseur als finalen Lösungs-Satz: „Es gibt keine Erkenntnis außer der Hoffnung“.
Das Publikum, darunter zahlreiche von weither angereiste Besucher, quittierte die Premiere mit viel Zuspruch.