Folgen von Kindsmisshandlung oder himmlische Visionen?
Kaum zu fassen: annähernd ein halbes Jahrhundert – exakt 49 Jahre – ist es her, dass Prokofjews Oper – abgesehen von einem Gastspiel des Petersburger Ensembles – in Berlin auf dem Spielplan stand. Der Erstaufführung des Feurigen Engel an der Staatsoper im Jahre 1965 war der Vorwurf des „Mystizismus“ gemacht worden, dem folgte, nach knapp einem halbem Jahr, die Absetzung.
Die fünfaktige Handlung folgt einem im Jahre 1919 aktuellen Schlüsselroman über die russische Femme Fatale Nina Petrowskaja. Sie erzählt von Renata, die seit Kindertagen ihren Spielgefährten Madiel als eine lichte Engelsgestalt liebt. Der entweicht jedoch, als sie ihn bittet, sich mit ihr körperlich zu vereinigen. Seither sucht Renata die ihr versprochene menschliche Reinkarnation Madiels und glaubt, sie in Heinrich gefunden zu haben. Auf ihren Irrwegen begleitet sie der Söldner Ruprecht, dessen Begehren sie ablehnt, der aber dann doch ihr Geliebter wird, nachdem er Heinrich auf ihr Verlangen hin getötet hat. Sie geht in ein Kloster, in das auch Mephisto, Faust und Ruprecht eindringen. Der Inquisitor macht Renata für die satanischen Exzesse der Nonnen verantwortlich; sie wird als Hexe verbrannt.
Seit seinem ersten Theatererlebnis – Gounods Faust – war Sergej Prokofjew fasziniert vom Teufel auf der Bühne. Damit lag der politisch eher desinteressierte Komponist durchaus richtig in seiner Zeit, denn de facto war das 20. Jahrhundert bekanntlich politisch „in der Hand des Teufels“. Der war seit Ende des 19. Jahrhunderts im Musiktheater besonders beliebt: in den achtzehn Bühnenwerken Siegfried Wagners tritt keine Figur so häufig auf, wie der zunächst komische, dann – analog Bulgakows Meister und Margarita – in wechselnden Erscheinungsformen und Gestalten immer gefährlicher werdende Teufel, popularisiert in Weinbergers Schwanda, der Dudelsackspieler, skurril in Boitos Mephistophele, ohne Komik in Viktor Ullmanns Oper Der Antichrist.
Auch in Prokofjews 1928 vollendeter, aber erst 1954 in Paris konzertant und 1955 in Venedig szenisch uraufgeführter Oper Der feurige Engel treibt Mephistopheles als Randfigur sein komisch-skurriles Spiel.
An der Komischen Oper Berlin hat der australische Schauspielregisseur Benedict Andrews die im Mittelalter in Köln spielende Geschichte ins Heute verlegt. In der Dramaturgie von Pavel B. Jiracek wird die in dunklen Erlebnissen des Mädchens Renata wurzelnde Horrorstory mit einer Vervielfachung der Haupthandlungsträgerin und ihres Begleiters Ruprecht bebildert. Sieben Kinder-Doubles von Renata verweisen auf deren frühkindliche Schädigung. Und durchaus schlüssig sind hier Madiel, der stumme Heinrich und der Inquisitor (Jens Larsen) ein und dieselbe Figur.
Universalplatten, die ebenso als Bodenbelag wie als Wände einsetzbar sind, lässt Bühnenbildner Johannes Schütz auf der zumeist kreisenden Drehscheibe permanent von erwachsenen Doubles der beiden Hauptdarsteller offen umbauen. Renata bildet ein Pentagramm aus brennenden schwarzen Kerzen, und eine Szene lang umgeben Kerzen das gesamte Rund der kreisenden Drehbühne.
Besonders eindrucksvoll inszeniert sind die Zwischenspiele, etwa jenes zwischen 1. und 2. Bild des zweiten Aktes, wo bereits der Auftritt der drei Totengerippe – als vorgeschriebenes Korrektiv zu den Aussagen des Agrippa von Nettesheim – erfolgt, wo aber reminiszenzhaft auch erneut die Wahrsagerin und Heinrich mit einer Kind-Renata auf den Armen auftreten. In einem späteren Zwischenspiel brennen die Handflächen der ausgestreckten Arme Heinrichs.
Die besungenen Hunde des Agrippa sind zwei junge Renata-Doubles mit Hundeköpfen. Die roten Teufelinnen, die Ruprecht mit ihren Schwänzen zu ersticken drohen, scheinen dem Variete entsprungen. Nach dem Duell mit Heinrich behandelt ihn ein Arzt mit einem Atemgerät („Wir sind nicht mehr im Mittelalter!“).
Etwas retardierend ist hingegen die Wirtshausszene geraten, mit Aluminiummülltonne und Nasszelle. Statt des besungenen Weins wird Bier aus Dosen konsumiert. Mephisto reißt dem knabenhaften Hilfskellner in Ermangelung von Hammelfleisch einen Arm aus und verzehrt diesen.
Suizidal setzt sich Renata das Messer an den Hals und verletzt sich an Brust und Schultern. Vor der Schlussszene schneiden die Kinder-Doubles Renata kichernd die Haare ab. Eine rechteckige Bodenplatte, auf die sich die Protagonistin häufig zurückgezogen hatte, wird nun zeitübergreifend als Zelle erkennbar; die Vielzahl der Zellen der Nonnen im Schlussbild entspricht der Vielzahl der von Renata-Doubles bevölkerten Zimmer im zwielichtigen Hotel des ersten Aktes.
Die rasanten Bildfolgen unterstützt das Lichtdesign von Diego Leetz, zunächst mit raschen Wechseln von intensivem Rot und Grün, später mit anwachsendem HMI-Licht.
Am Ende werden dem Inquisitor von den gelb gewandeten Nonnen (Kostüme: Victoria Behr) flammenfarbige Engelsflügel angeschnallt, Renata übergießt sich mit Benzin aus seinem Kanister und hinter den gestaffelten Wänden lodert eine bühnenhohe Stichflamme.
Durchaus faszinierend gestaltet Svetlana Sozdateleva, die diese Rolle auch schon in Brüssel gesungen hat, die hochdramatische Partie der Renata als einsame Frau voll ungestillter sexueller Sehnsucht, mit runder Stimmgebung und körperlicher Exzessivität. Ihr zur Seite kraftvoll, aber mit wenig Nuancen, Evez Abdulla als Ruprecht. Spannende Rollenprofile liefern Christiane Oertel als lüsterne Wirtin und in Doppelrollen Dmitry Golovnin als Agrippa von Nettesheim und Mephistopheles, sowie Xenia Vyaznikova als Wahrsagerin und Äbtissin.
Trefflich hat David Cavelius den Chor einstudiert, überzeugend insbesondere in der Verhaltenheit des Herausbrechens verborgener Wünsche bei den Nonnen.
Die symbolistische, durchkomponierte und in ihrer symphonischen Orchesterdichte nachwagnerische Partitur erklingt in der Interpretation von Generalmusikdirektor Henrik Nánási insgesamt seltsam domestiziert und ohne jene schneidenden Härten, die Prokofjews moderne Tonsprache auszeichnen. In Erinnerung bleiben die aggressiven dreifachen Schläge der kleinen Dämonen und die „dolcezza pucciniana“ im Vereinigungsmotiv von Renata und Madiel. Die Hauptakzente des Abends aber waren szenischer Natur und lösten auch Lacher aus, etwa das Geräusch des Bierdosen-Öffnens in Generalpause vor der Wahrsagerin-Szene.
Bedauerlich, dass auch bei dieser Produktion das – bis Amtsantritt des Intendanten Barrie Kosky – gepflegte Alleinstellungsmerkmal der Komischen Oper Berlin, alle Opern in Landessprache aufzuführen, durchbrochen wird: die in französischer und italienischer Sprache uraufgeführte, später deutsch und englisch gesungene und erst in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts auch in russischer Sprache gespielte Oper, (1983 gekürzt in Perm und 1984 unredigiert in Taschkent) wird in Berlin auf Russisch dargeboten. Angesichts der raschen und dichten textlichen Abfolge wird das Betrachten der turbulenten Bühnengeschehens und das gleichzeitige Mitlesen der Übersetzung auf den Rücklehnen der Vordersitze zur Strapaze.
Da die finale Orgie zwar gut choreographiert, aber doch vergleichsweise brav geraten ist, gab es am Ende der pausenlosen, zweieinviertelstündigen Aufführung seitens des stark mit russischen Besuchern untersetzten Premierenpublikums keinerlei Widerspruch, sondern heftigen, langen Applaus für alle Beteiligten.