Wahlverwandtschaften im Hannover, Staatsoper

Goethes Wahlverwandtschaften getanzt

So viele Schattierungen wie zwischen den Grundfarben des Regenbogens oszillieren - so viele Gefühle trägt jeder Mensch in sich. In seiner Choreografie Wahlverwandtschaften nach Goethes gleichnamigem Roman ließ sich Hannovers Ballettchef Jörg Mannes von Goethes Farbenlehre und seiner darin aufgestellten simplen mathematisch-naturwissenschaftlichen „Vergleichsanordnung" inspirieren, die sich auch in der Struktur des Romans findet: 4x Charlotte + 4x Eduard + 4x Otto + 4x Ottilie = vielfältige Irrungen und Wirrungen. Vier Personen in viererlei Gestalt stehen auf der Bühne: das Ehepaar Charlotte und Eduard in grün und rot, Eduards Freund Otto blau und Charlottes Nichte Ottilie gelb gekleidet. Aus allem nüchternen Kalkül ist dennoch eine hoch emotionale Liebestragödie entstanden.

Die vier Menschen begegnen sich auf dem Gut des vermeintlich glücklich mit einander verheirateten Paares Charlotte und Eduard. Dessen Freund Otto und Charlottes Nichte Ottilie kommen zu Besuch. Eduard fühlt sich zu dem fast noch kindlich scheuen Charme Ottilies hingezogen, Otto nähert sich Charlotte. In der folgenden Liebesnacht des Ehepaares driften die Gedanken beider zu der neuen Liebe. Charlotte entsagt ihrem Verlangen nach Otto. Eduard flüchtet in den Krieg, um Ottilie zu vergessen. Bei seiner Rückkehr hat Charlotte das Kind geboren, das in der Nacht des „Ehebruchs im Ehebett" gezeugt wurde. Ottilie, die den Säugling liebevoll betreut, ist derart verwirrt angesichts Eduards neuerlicher Liebesbekundungen, dass ihr das Kind aus den Armen gleitet und ertrinkt. Außer sich vor Verzweiflung stirbt sie in Eduards Armen.

Es gäbe keine zentrale Figur in seinem Ballett, beteuert Mannes in seinen Ausführungen im Programmheft. Für die Zuschauer überragt jedoch unübersehbar Ottilie die drei anderen Personen, die sich meist kaum von ihren je drei ebenfalls sehr klischeehaften „Schatten" abheben (Cássia Lopes als Charlotte, Denis Piza als Eduard und Patrick Michael Doe als Otto). Die zierliche Brasilianerin Catherine Franco zieht vom Moment ihres ersten schüchternen Auftritts alle Blicke auf sich. Wie hingehaucht in fließenden Bewegungen und bei jeder Drehung wehendem gelben Chiffonkleid balanciert sie auf der Gartenmauer, hüpft, dreht sich und nähert sich den „Erwachsenen" schließlich artig. Das bezaubernde „Kind" lässt sich schnell von Eduards Blicken und Liebkosungen verführen. Der Tante gegenüber herrschen - nicht ohne Verlegenheit der Jüngeren und Gereiztheit der Älteren - die üblichen, strengen Konventionen. Man steht, wie in vielen Szenen des Balletts, an einem vom Schnürboden schwebenden rechteckigen Tisch, hackt mit den Händen eckige Muster in die Tischplatte. Sehr geziert sieht das aus wie so vieles in Mannes' Vokabular, bis hin zur unfreiwilligen Komik und Peinlichkeit, wenn zum Beispiel die Damen immer und immer wieder in jeder Pose die Beine weit spreizen, alle Hampelmann spielen oder Soldaten - erst machen sie „peng-peng" und fallen tot um, um im nächsten Moment aufzustehen und weiter Krieg zu spielen. Diese Kinderspiele wollen so gar nicht zu den verzweiflungsvollen Liebeswallungen der Paare passen.

Musikalisch ist diese Liebestragödie opulent unterfüttert. Wunderbar passen sich Orchesterkompositionen von Mendelssohn-Bartholdy und Mozart ein, hervorragend musiziert vom Niedersächsischen Staatsorchester Hannover unter Mark Rohde mit Solisten und Chor, wohingegen Bach zum Kriegsgetümmel eher befremdlich wirkt. Überirdisch spielt Siegmund Weinmeister die Kadenz des Adagio aus Mozarts d-Moll Klavierkonzert, während Catherine Franco Ottilies Ausweglosigkeit nach dem Tod des Kindes tanzt - zweifellos die intensivste, tief berührende Szene des ganzen Abends. An Tom Schillings Wahlverwandtschaften mit Kammermusik von Franz Schubert reicht Mannes' Goethe-Ballett nicht heran. Aber trotz mancher Einschränkungen ist es durchaus sehenswert.