Doppel-, Tripel und Multipel-Gänger
Der im Dezember 2000 in seiner Amtausübung verstorbene Generalintendant Götz Friedrich hatte sich für die Deutsche Oper Berlin immer eine zweite Spielstätte im Hause gewünscht. Intendant Dietmar Schwarz ist dies, dank der Auslagerung der Werkstätten, ganz ohne Neubau gelungen: in der ehemaligen Tischlerei wird den Besuchern (auf einer Zuschauertribüne, mit sehr guter Sicht) nun schon im zweiten Jahr ein Programm mit Aufführungen des neueren und neuesten Musiktheaters geboten.
Bühnenbildner Oliver Helf hat den ebenerdigen Raum der Tischlerei auf der einen Seite in einen gekachelten Warteraum mit wasserlosem Bassain und rotem Vorhang verwandelt, auf der anderen Seite eine Schaubude für diverse Tricks präpariert, dazwischen ein Treppenaufgang, aber auch mit magischen Öffnungen für unmerkliche Abgänge und Auftritte im Kachelraum.
Aus der Bude wird Hoffmann eine Sexpuppe als Olympia gereicht, aber unbemerkt und verblüffend lässt der Regisseur diese gegen eine Tänzerin austauschen, zu der eine in Kostüm und Maske nahezu identische zweite Tänzerin tritt, die Dritte im Bunde der sich gemeinsam als automatisierte Puppen gleichermaßen virtuos bewegenden Darstellerinnen ist die im Vorspiel als Stella initiierte Sopranistin.
Auch beim sich anschließenden Venedig-Akt erlebt der Besucher eine choreografierte Verdreifachung der Giulietta durch die beiden Tänzerinnen (Yannick Greweldinger und Silke Hundertmark), wobei die junge Sopranistin Alexandra Hutton die berühmte Barcarole nicht als Duett, sondern als Solonummer trefflich zum Besten gibt. Die Darsteller gleiten auf fahrbaren Stühlen und Beistelltischen, wie in Gondeln, über die Szene oder schwimmen gleichsam durch die gespreizten Schenkel der drei Kurtisanen.
In dieser Inszenierung ist es nicht der Branntwein bei Luther und Wegener, sondern ganz banal Berliner Bier aus Flaschen, das besungen wird (der im französischen Original erklingende Text ist Deutsch übertitelt). Die Flaschen werden kollektiv auf den Stirnen balanciert, und mit einer davon „pinkelt“ Hoffmann auf seinen Nebenbuhler.
Auf die Spiegel-Arie, welche original nicht in diese Partitur Offenbachs, wohl aber zur Aufführungstradition dieser Oper gehört, verzichtet auch die auf gut 90 Minuten verkürzte, pausenlose Berliner Aufführung nicht. Giulietta enthüllt hinter dem roten Vorhang einen dreiteiligen Spiegel, und die Verselbstständigung des Spiegelbildes von Hoffmann durch ein Double hinter der Spiegelwand gelingt technisch perfekt.
Komponistin Anne Champert, die auch composer in residence am Pariser IRCAM war, hat als Bearbeiterin diese Szene mit einem nervenaufwühlenden Solo des Kontrabasses am Steg ergänzt.
Die multiple Vervielfachung Hoffmanns passiert durch ein ganz einfaches Mittel: das Herren-Ensemble hält sich Fotos des Tenors vors Gesicht und dreht diese gemeinsam auf die Rückseite, als multiple Erscheinung der Giulietta.
Ebenfalls im Venedig-Akt hat die Bearbeiterin ein weiteres Zwischenspiel für Kontrabass und Bassklarinette eingefügt, eine atmosphärisch dichte, bedrückende Musik, zu der einer der Herren (der Tänzer Reinier Schimmel – als Schlemihl?) einen affenartig albtraumhaften Tanz vollführt und mit seinen epileptischen Zuckungen schließlich alle Herren infiziert.
Für den dritten Teil des pausenlosen Abends nimmt das Orchester den Weg hinter der Publikumstribüne auf die andere Seite der Bühne, nun begleitet der musikalische Leiter die instrumentalen und vokalen Kollegen an der Orgel.
Im Antonia-Bild trägt das Herren-Ensemble anstelle des Kopfes übergroße Augäpfel (ursprünglich für den Olympia-Akt vorgesehen?) als surreale Bedrohung der Liebe Hoffmanns zu Antonia.
Die anonymen Augäpfelträger stülpen Wasserflaschen auf ihre Regenschirme und fluten auf diese Weise sukzessive das Wasser um die einsam auf ihrem Sessel im Becken sitzende an TBC erkrankte Antonia.
Dem Dichter zuliebe will sie auf ihr Singen verzichten, wird aber von dem alle Bösewichter-Rollen der Spielvorlage zu einer Person vereinenden Gegenspieler Hoffmanns zur tödlichen Gesangsausübung verleitet. Unter einem Geweih fulminant singend und agierend, zitiert der Bassist Seth Carico Antonias tote Mutter herbei.
In Ermangelung einer Altistin erklingt deren Stimme von der Bratsche, und als ein verblüffender Effekt tanzt ein an vier Punkten aufgehängter Geist der Mutter, mit einem projizierten Frauenantlitz – von einem Mitglied des Herren-Ensembles sichtbar ferngesteuert, in der Luft herum.
Somit ist auch dieses Terzett als Duett zu erleben, allerdings mit konzertierender Bratsche (sehr stark: Sophia Reuter). Der Dirigent hat inzwischen die Orgel und den sichtbaren Bühnenraum verlassen und spielt hinter der Szene am Klavier weiter.
Die beiden Doubles der Antonia haben das Oberteil von deren rotem Kleid geöffnet und unter dem nackten Busen einen Schnitt angebracht. Die auch in dieser Partie großartige Alexandra Hutton zieht selbst ihr Herz aus dem Körper und reicht das blutige Utensil Hoffmann. Dann legt sich Antonia – verdreifacht – zum Sterben ins Wasser.
Vereinsamt und traurig, mit Bezug auf diese Geliebte, singt Hoffmann die vierte Strophe von Klein-Zack. Und während der Teufel auf der Bank die „Zigarette danach „raucht, ertönt vom Herren-Ensemble hinter der Szene als Abschluss eine das Leiden als Inspirationsquelle besingende Passage aus dem erst spät aufgefundenen, Offenbachs Hoffmann-Oper abschließenden Hymnus.
Der Tenor Paul Kaufmann als Hoffmann fährt ebenso rasant Auto-Scooter, wie er sich scheinbar mühelos körperlich ins choreographische Gesamtbild einfügt und dabei mit schöner Stimmgebung kraftvoll alle gesanglichen Klippen dieser Partie bewältigt.
Das namhafte, choreografierte Herren-Ensembles fasziniert in seiner Präzision der Gesamtwirkung, mit Sprüngen, Stürzen und Drehungen ebenso, wie stimmlich im chorischen Zusammenklang.
Die Regiearbeit des niederländischen Regisseurs, Performers und Zauberers Jakop Ahlbom nennt als Vorbild Arbeiten von David Lynch, aber Parallelen zu den Filmen Lynchs stellen sich hier primär durch exzentrische Beleuchtung in den kontrastierenden Farben Pink und Lindgrün ein, als in der Personenführung. Auch wenn die Kirmes-Bude als ein Schießstand mit Puppen und verblüffenden Attraktionen nicht neu ist , ist Ahlboms Inszenierung überaus exakt gearbeitet, in sich stimmig und überzeugend.
Als Musikalische Leitung benannt der Programmzettel die Bearbeiterin Anne Champert, die diese Koproduktion von Deutscher Oper Berlin und Bayer Kultur im Vorjahr musikalisch selbst geleitetet hat. Bei dem sehr versierten Dirigenten der Wiederaufnahme handelt es sich offenbar um Jens Holkamp, der auch am präparierten Flügel und an der Orgel Überzeugendes leistet.
Mit heftigem und lang anhaltendem Applaus dankte das Publikum allen Beteiligten im ausverkauften Kleinen Haus der Deutschen Oper Berlin.