Die ganze Stadt tanzt
Zum elften. Mal profiliert sich Niedersachsens Landeshauptstadt als „Tanzstadt". Seit der Gründung der Oster-Tanz-Tage quasi als Anhängsel an den renommierten Internationalen Wettbewerb für Choreografen der Ballett-Gesellschaft (er findet inzwischen im Juni statt) hat sich das Programm weit über zwei oder drei Galavorstellungen im Opernhaus hinaus entwickelt. Während der Ballett-Kinderwoche erarbeiten nun Kinder und Jugendliche eine gemeinsame Choreografie, die am Ostermontag auf der Opernbühne zu sehen sein wird. Gleichzeitig zeigen auch Spätbewegte (Laien ab 45 Jahren) das Ergebnis ihres Workshops mit dem Ballettmeister des Staatsopernballetts Mathias Brühlmann. In den oberen Foyer-Räumen präsentieren Mitglieder der Kompanie und Ballettdirektor Jörg Mannes die 6. Folge der Fotoausstellung Tanzstadt Hannover - Tanz-Augen-Blicke. Viele der zumeist sehr künstlerischen Aufnahmen zeichnen sich - was Wunder! - durch verwischte Konturen der bewegten Motive aus.
Im Mittelpunkt der Festwoche stehen die hochkarätigen Ballett-Aufführungen. Überwältigt feierte das Publikum am Gründonnerstag Martin Schläpfer und sein Ballett am Rhein mit Schläpfers preisgekrönter Choreografie von Brahms' Ein Deutsches Requiem (im Opernhaus Düsseldorf wieder zu erleben am 26. Juni, im Theater Duisburg am 28. Juni und 5. Juli). Verständlich war die Verwendung einer CD-Einspielung für dieses einmalige Gastspiel im Gegensatz zu den live Aufführungen der Musik am Rhein, bedauerlich allerdings die Wahl einer amerikanischen Aufnahme mit sehr mangelhafter Textverständlichkeit des Chores.
Von ganz anderer Art ist der Glanz der Danza Contemporánea de Cuba, die im Rahmen ihrer großen Deutschland-Tournee Anfang des Monats mit demselben dreiteiligen Programm bei den Internationalen Tanzwochen Neuss begeisterte. Rassig, erotisch, technisch perfekt und ausgesprochen vielseitig bringen die Artisten in den zeitgenössischen mittel-europäischen Tanz das Flair der Karibik (am Karsamstag). Jörg Mannes' Dornröschen schließlich (Ostersonntag) ist sein jüngster "Klassiker" im Repertoire des Staatsopernballetts: frisch und mit Raffinement unverkrampft modernisiert bietet das Ballett eine Augenweide.
Eindeutiger Höhepunkt der Festwoche war die Eröffnung mit der Premiere von Mario Schröders Chaplin - just um den 125. Geburtstag des unvergesslichen Erfinders des Tramp mit Spazierstock, Melone und dem Watschelgang in den ellenlangen, nach außen gedrehten Schuhen. Die sehr respektvolle, technisch aufwendig produzierte Chronologie des Lebens und Schaffens von Charles Spencer Chaplin entstand 2010 für das Leipziger Ballett zum Einstand des Dresdner Chaplin-Verehrers als Ballettchef.
In dem hochgewachsenen Brasilianer Denis Piza steht Schröder in Hannover ein Darsteller für die Titelrolle des legendären Filmkomikers zur Verfügung, der vor allem die Verletzlichkeit des Künstlers und Menschen recht brav in weißem Hemd und schwarzer Hose verkörpert. Die Weichheit ist sehr stimmig bei der Begegnung mit seinen drei Ehefrauen Mildred (Alexis Nicole Panos), Paulette (Lilit Hakobyan) und Oona (Mariateresa Molino). Chaplins angeblich ausgeprägte Geschäftstüchtigkeit kommt indirekt über, z.B. in einer der besten Szenen des Balletts: steil bergauf geht die Hollywood-Karriere des Engländers in der Stummfilmzeit. Aus seiner Kunstfigur Tramp wächst ein ganzes Heer und wird fabrikmäßig auf Celluloid-Streifen gespult. Schröder besetzt den ulkigen Landstreicher mit einer Tänzerin, um die weiblichen Seiten Chaplins zu unterstreichen. Die zierliche Catherine Franco ließ sich bei der Premiere zu „niedlicher" Koketterie glücklicherweise erst beim tosenden Schlussapplaus verleiten. Federleicht, wendig, mit gut gespielter Naivität dem „großen Diktator" gegenüber und kindlicher Angst vor Tonfilmmikrofon und Krieg zeigt sie große Bühnenpräsenz.
Man muss nicht alle Filme Chaplins kennen, um Anspielungen, Zitate oder Details zu verstehen. Aber selbstverständlich erkennt jedermann Hitler, wie er sich zusammengeknüllt und arglistig in einem weißen Ballon auf die Weltbühne schleicht, sich nach und nach aus dem Kokon schält und schließlich als Raupe mit großer Aura zu Wagners Lohengrin-Vorspiel davon macht. Pantelis Zikas gelingt eine perfekte Persiflage. Das tragische Ende der Karriere des deklarierten Kommunisten Chaplin im Zweiten Weltkrieg und die Abschiebung des Engländers aus der amerikanischen Wahlheimat bedeutet zwar einen Neuanfang mit Ehefrau Oona in der Schweiz, aber den endgültigen Abschied vom Tramp, der als Silhouette auf einem besudelten Plakat zurückbleibt.