Übrigens …

Juliette im Theater Bremen

Liebe ist nur ein Traum

In Bremens Kunsthalle drängen sich die Menschen um die Bilder von Sylvette. Der 73jährige Pablo Picasso hat dieses blonde, reine und schöne Geschöpf mit den zum Pferdeschwanz zusammengebundenen Haaren immer und immer wieder gemalt. Zwei Monate lang besuchte ihn die um Jahrzehnte jüngere Frau regelmäßig in seinem Studio im französischen Vallauris (Côte d’Azur). Sie war ihm Modell, er hat sie vergöttert, mehr nicht. Die Gemälde – naturalistische Porträts wie deren kubistische Verformungen – besitzen ungeheure Suggestivkraft. Sylvette als Projektionsfläche für allerlei Fantasien, als ein Wesen wie aus einer Traumwelt – sieht sie nicht ein bisschen aus wie Brigitte Bardot?

Einen Steinwurf vom Museum entfernt, im Theater der Hansestadt, wird die Geschichte einer anderen Frau erzählt. Sie lockt durch betörenden Gesang, ist schön. Aber ist sie auch real? Oder doch bloß ein Produkt lieblichster Träume, Projektionsfläche und in diesem Sinne der reizenden Sylvette anverwandt? Jeder mag das selbst entscheiden. Juliette jedenfalls, deren „Fall“ hier in außergewöhnlicher Opernmanier verhandelt wird, ist gleichermaßen präsent und verborgen. Sie kann als reale Person unnahbar, als sur-reales Wesen aber greifbar sein. In Form eines Liedes, das Teil ihrer Identität ist, die sich damit ins Sirenenhafte weitet.

Juliette ist eine von 14 musikdramatischen Arbeiten des tschechischen (böhmischen) Komponisten Bohuslav Martinu. Er schrieb das dreiaktige Werk in Paris, 1939. Dort nahm er über Jahre die klingende Moderne in sich auf – Strawinskys revolutionäre Rhythmik, die (witzige) Sachlichkeit der Groupe des Six um Erik Satie, Formen des Jazz. Andererseits arbeitete er mit folkloristischen Elementen seiner Heimat. Doch Juliette ist eine durch und durch französische Oper. Sie hat etwas vom Narkotikum Debussys (Pelléas), atmet aber auch die duftige Leichtigkeit einer Mittelmeerbrise, besticht vor allem durch luzide Klangbilder. Kurzum: Sie gleicht einem in Töne gegossenen Surrealismus.

Denn in dieser Geschichte nach dem gleichnamigen Roman von Georges Neveux entpuppt sich das anfangs scheinbar logisch-lineare Geschehen als Traumgespinst. Der reisende Pariser Buchhändler Michel kommt in ein gottverlassenes Nest am Meer, das er drei Jahre zuvor schon einmal besucht hatte. Damals wurde er gebannt vom Gesang eines wunderhübschen Geschöpfes, doch er floh ihrer Anziehungskraft. Nun aber scheint das Dorf nur noch bevölkert von wundersamen Typen, die sich an nichts erinnern können. So beständig wie unverhofft kreuzen sie Michels Pfade, der die Schöne wiedertrifft. Jetzt allerdings, trotz Liebesschwüren, entzieht sie sich ihm, er erschießt sie – aber ist sie auch tot? Michel landet schließlich in einem Büro, wo Träume verkauft werden. Wieder hört er die zaubergleiche Stimme, kann aber den Weg zu Juliette nicht finden. Er reist zu einem Städtchen am Meer...

Ja, diese skurrile Handlung könnte sich endlos fortspinnen. Weil hier Traum und wirkliches Leben aufs Schönste verschmelzen. Es ist ein Stück aus Absurdistan. Jedoch: „Das Absurde kann jeden beliebigen Menschen an jeder beliebigen Straßenecke anspringen“, wie Albert Camus im Programmheft zitiert wird. Es macht Martinus Oper so reizvoll, dass sie zugleich nah am und doch so fern vom Leben ist. Wir geben uns hin der fließenden Intensität der Musik, dem bezaubernden Bühnenbild á la Magritte, der ulkigen Typenparade.

Denn was Dirigent Clemens Heil, Ausstatterin Johanna Pfau und Regisseur John Fulljames an Atmosphäre herbeizaubern, nimmt unmittelbar gefangen. Eine Hauswand mit ihren hölzernen Fensterläden und Türen, zunächst unmittelbar hinterm Vorhang platziert, im zweiten Akt sich zum Carrée weitend, am Schluss in seine Bestandteile zerlegt, erinnert an René Magrittes „Golconde“-Bild (mit den schwebenden Männern). Und die Tür, hinter der Michel die geliebte Juliette vermutet, dort aber nur das Nichts findet, deutet vielleicht auf „Le victoire“ des Malers. Alles wirkt so real wie unwirklich. Dann diese Typen: Drei Herren in Frack und Zylinder, die zu einem Fest wollen, doch den Weg nicht finden. Oder der Schankwirt, der seine Kneipe in Form eines Klavieres hinter sich her zieht. Oder der mephistophelisch anmutende Mann auf dem Hochrad, der Erinnerungspostkarten verteilt. Sie und viele andere sind da und doch nicht von dieser Welt, mehr Schein als Sein.

Martinus Musik passt sich wie ein Chamäleon der jeweiligen Szene an. Unmerklich verändern sich die Farben, schmeicheln die Holzbläser, flirren die Streicher. Im Orchester funkelt’s und gleißt’s, ballt sich selten atonale Dramatik. Die Bremer Philharmoniker pflegen ein aufregend durchsichtiges Klangbild, pendeln gekonnt und präzis zwischen einem perkussiv pointierten mechanischen Gestus und lyrischer Intensität. Alles fein gewoben, gewissermaßen surreal anmutend. Für die Solisten heißt es deshalb, nicht zu überzeichnen. Das beinahe immerwährende Parlando, nur gelegentlich durch ariose Legatobögen oder Sprechgesangsminiaturen aufgelockert, verträgt kein stimmliches Sich-in-Positur-Stellen. Entsprechend klug, aber umso wirkmächtiger dosieren Mezzosopranistin Nadja Stefanoff (Juliette) und Tenor Hyojong Kim (Michel) ihre Leidenschaft. Die Nebenrollen sind trefflich besetzt, wenn auch bisweilen zu dick aufgetragen wird.

Juliette in Bremen ist das, was gemeinhin Ausgrabung heißt. Martinus Oper taucht sporadisch hier und da auf, zuletzt war sie in Bregenz zu erleben. Doch dieses Mauerblümchendasein mit Unterbrechungen wird dem wunderbaren Werk nicht gerecht. „Habt mehr Mut“ wollen wir den Spielplangestaltern zurufen.