Ol' Man River und Fortuna
Just während unseres dritten Besuchs in Linz seit der Eröffnung des neuen Musiktheaters am Volksgarten (Mitte April 2013) blinkte auf der Nachrichtentafel im Foyer die "magische" Zahl auf: der dreihunderttausendste Besucher hat sich angemeldet. Wenige Tage zuvor legte das Landestheater Linz seine beeindruckende Bilanz des ersten Jahres vor: die rund 450 Vorstellungen waren zu knapp 91 Prozent ausgelastet. Mit 99,8 Prozent ist die Kinderoper „Quotenkönigin", dicht gefolgt von Musical und Operette. Selbst die Oper mit ihrem anspruchsvollen Programm konnte die 90-Prozent-Marke knacken. Angetreten war die charmante oberösterreichische Industriestadt an der Donau nach über zwanzigjährigem Ringen um den Neubau mit dem Ziel, sich durch eine eigene Musical-Sparte und die Pflege zeitgenössischer Oper zwischen den Touristen-Magneten Salzburg und Wien kulturell zu profilieren. Das ist im ersten Jahr mit 28 Premieren - darunter 14 Ur- und Erstaufführungen, u.a. die Uraufführung von Philip Glass' Spuren der Verirrten (s. theaterpur Nebenan 4/2013) - über Erwarten gut gelungen.
Die drei von uns besuchten Repertoirevorstellungen waren lange im Voraus ausverkauft. Bei Daniela Kurz' Inszenierung von Purcells Dido und Aeneas (s. theaterpur Nebenan 12/2013) als Installation mit japanischer Symbolik präsentierte sich die Black Box in völlig veränderter, doppelt so großer Gestalt wie bei der Premiere des Musical-Potpourris während der Eröffnungswoche Seven in Heaven, der bis heute ein Renner ist.
Mit Showboat kam eines der allerersten Musicals überhaupt auf die Bühne des Großen Saals (mit über 1.200 Plätzen). Uraufgeführt 1927 im legendären Ziegfeld Theatre, New York, ist der Jerome-Kern-Klassiker mit dem Text von Oscar Hammerstein II. nach Edna Ferbers Roman ein in jeder Hinsicht typischer Amerikaner. Die Theater-Flußboote erfreuten sich lange Zeit großer Beliebtheit vor allem in den Südstaaten, existieren heute aber nur noch als Touristenattraktion. Showboat erzählt vom Alltag einer solchen Reisetruppe, beleuchtet aber auch die Situation der Afro-Amerikaner zwischen 1880 und 1930. Songs wie Ol' Man River und Can't Help Lovin' Dat Man, die den melancholisch-emotionalen Geist der frühen Südstaaten-Kultur atmen bis zu ausgelassenen Gesellschaftstänzen wie Charleston und Shimmy in den wilden Zwanzigern machen den bestrickenden Unterhaltungswert des vom Libretto her überholten und sehr uneinheitlichen Werks aus.
Die exzellente Linzer Erstaufführung der heute gängigen Harold-Prince-Version von 1993 verantworten Dirigent Kai Tietje - international gefragter Arrangeur und Musical-Spezialist, von 2002 bis 2008 1. Kapellmeister in Gelsenkirchen - und Regisseur Matthias Davids, die gemeinsam die Musical-Sparte leiten. Ganz besonderen Pepp verleiht die spritzige Choreografie von Simon Eichenberger der Aufführung. Eine grandiose Besetzung tut ein Übriges für den Erfolg. Wie aus einem Guss klingen Bruckner-Orchester-„Band" und die schwungvollen Chöre. Frappierend authentisch wirken die vorwiegend farbigen Statisten und Solisten - allen voran der gewichtige, dunkelhäutige Zelotes Edmund Toliver - promovierter Musikwissenschaftler aus Mississippi, heute in allen berühmten Bass-Partien von Sarastro bis Gurnemanz, von Fafner bis Fürst Gremin auf den größten Bühnen der Welt zu Hause - als Hafenarbeiter Joe und die rassig temperamentvolle Jazz-Sängerin Adi Wolf (aus Freiburg) als Köchin Queenie. Seinen strahlenden Tenor lässt der deutsche Musical-Star Christian Alexander Müller als junger Charmeur Gaylord Ravenal blitzen. Die Wienerin Lisa Antoni aus dem hauseigenen Ensemble entzückt als quicklebendige Magnolia, verliebtes Töchterchen des markigen Schiffskapitäns und Prinzipals der Truppe (Reinwald Kranner).
Nicht minder einfallsreich und kurzweilig choreografierte die neue Linzer Ballettdirektorin Mei Hong Lin Carmina Burana gemäß Carl Orffs Wunsch, die Theatralik und Rhythmik der mittelalterlichen Gesänge durch starke Bilder zu unterstreichen. Den zahlreichen Ballett-Versionen von Mary Wigman bis Youri Vámos fügt die Taiwanesin ein Kontrastprogramm zwischen Poesie und Erotik hinzu. Zu sieben Szenen werden die 25 Lieder gebündelt. Alle Fäden hält Showmaster Schicksal (Fortuna Impreratrix Mundi: Julio Andrés Escudero) fest in der Hand. In einem farbenfrohen Tableau schart die Menschheit sich unter milchigem Vollmond um den Entertainer im weißen Anzug. Eine ausladende Geste, ein Schnippen mit den Fingern bringt die Welt in Bewegung. Ein munteres Treiben setzt ein mit einem "Schnelldurchlauf" durchs Leben und endet turbulent, wenn Fortunas Rad sich immer weiterdreht. Immer Wiederkehrendes wie Tod und Trauer oder Hochzeit und ausgelassene Feste wechseln mit heutigen Realitäten: Casting, Medienhype, offen ausgelebter Sexualität. Orffs Schänke wird in die öffentliche Toilette verlegt (was manche Zuschauer gar nicht witzig fanden, aber raffinierte "Bilderbuch"-Effekte abgibt). Der Mond wechselt Farbe, Position am Bühnenhimmel und sein "Gesicht", wird mal Glitzerkugel, mal kugelrunde Gebärmutter mit Embryo, hockt der schönen Sopranistin Mari Moriya flammend rot auf der Schulter. Der Tanz hat alles, was modernes Ballett vom zierlichen Spitzentanz und aufgeplusterten Tüll-Tutu ausmacht bis hin zum Turnzeug für akrobatische Kunststücke und H&M-Klamotten für Alltagsszenen.
Kapellmeister Ingo Ingensand hat alle Hände voll zu tun, die Musikanten zum Tanz zu dirigieren: das Bruckner- Orchester sitzt im Graben. Der Kinderchor steht hinter den Tänzern auf der Bühne. Die drei Solisten treten mal hier, mal dort auf die Bühne, wobei die Herren Matthäus Schmidlechner und Martin Achrainer der Dame allerdings weder stimmlich noch an Aura das Wasser reichen können. Der Chor sitzt - ganz in schwarz bis hinein in die pomadigen Herrenfrisuren und strengen Pagenköpfe der Damen - auf den schmalen Seitenrängen, wechselt nur zwischendurch und zum Schluss kurz auf die Bühne. Das geballte theatrum mundi als satte Varieté-Show!