Chrysis – oder die Lust am Pudern
Im dezent abgedunkelten Gartensaal des Münchner Prinzregententheaters signalisiert die sich in den Spiegeltüren als scheinbarer blauer Abendhimmel reflektierende, blau ausgeleuchtete Deckenmalerei die Weite der griechischen Landschaft. Hier, im Tempel-Areal extrem lustbetonter Liebesdienerinnen spielt die Handlung der Aphrodite. Diese gleichermaßen erotische, wie blutige Geschichte basiert auf Pierre Louÿs, dem Pariser Gespielen von Oscar Wilde und Widmungsträger seiner Salome. An erotischer Libertinage, starker Bildhaftigkeit und Blutigkeit wetteifert Louÿs’ Roman mit dem Drama seines prominenten Liebhabers. Die Kurtisane Chrysis, von einer Kollegin überboten und mit dem Schönheitspreis der Königin ausgezeichnet, verleitet den Bildhauer Demetrios zu Diebstahl und Mord und schließlich zur Zerstörung seiner eigenen Aphrodite-Statue. Deren Position nimmt dann Chrysis selbst ein. Zum Tode verurteilt, darf sie auf Bitte des ihr verfallenen Bildhauers den Schierlingsbecher trinken. Aber auch Demetrios stirbt, doppelt gebrochen durch die Vernichtung seines Kunstwerks und den Dolchstich eines Nebenbuhlers.
Der Wiener Journalist und Kulturkritiker Hans Liebstöckl hat die weitschweifige Handlung stringent als Einakter auf die Handlung in einer Nacht konzentriert. Der 1868 in Mähren geborene Max von Oberleithner, langjähriger Schüler und engster Freund Anton Bruckners, hat die Story, die sich auch Debussy zwei Jahre lang zur Vertonung gesichert hatte, in eine zauberhaft irisierende, nachhaltig aufreizende Musiksprache gepackt: aus Anklängen an den französischen Impressionismus wachsen plastische, spätromantische Themen empor.
Die Sinnlichkeit der Musik, der lasziv-erotische Text und deren szenische Umsetzung hatten offenbar exakt den Nerv des Opernpublikums im Vorfeld des Ersten Weltkrieges getroffen – die damals mit dem Aufbruch in einen Krieg verbundenen Hoffnungen auf Umwälzung, auf Liberalisierung und Aufhebung überkommener Gesetze bis hin zum utopischen Wunsch grundlegend besserer Lebensbedingungen.
So begründete die Uraufführung der Aphrodite an der Wiener Hofoper im Jahre 1912 den Ruhm des Opernkomponisten Max von Oberleithner. Hier stand diese Oper sechs Jahre lang auf dem Spielplan, bis Oberleithner diesen Erfolg mit seiner Oper Der eiserne Heiland noch zu überbieten vermochte.
Der als Ausgräber rührige Münchner Dirigent Joachim Tschiedel hat mit Aphrodite – ein Vierteljahr nach der von ihm initiierten Produktion von Antoine Mariottes Oper Salomé – einen weiteren literarischen Stoff des französischen Fin de Siècle in München erneut auf die Bühne gebracht. Diesmal leider nur von zwei Flügeln begleitet, allerdings in einer exquisiten, von Tschiedel geschaffenen Fassung, die sowohl die Struktur der Komposition klar herausarbeitet, als auch Orchesterfarben und Klangballungen erahnen lässt. Mit Studierenden des Studiengangs Musiktheater hat er seine pianistische Version, gemeinsam mit Eva Pons, selbst zur Uraufführung gebracht.
Obgleich mit Klavierauszügen bewaffnet, bewegen sich die Solisten doch immer wieder von ihren Pulten weg und agieren frei im Raum. Denn es handelt sich um eine durchaus innovativ zu nennende szenische Realisierung durch einen Schüler Sebastian Baumgartens. Die szenische Einrichtung von Levin Handschuh lässt den Zuschauer anhand weniger Spielrequisiten – Tulpen, Gläser und ein Shawl – deutlich erkennen, welche Rolle die multipel eingesetzten Sängerdarsteller gerade verkörpern. Der Regisseur selbst filmt, was live auf eine die Spielfläche abschließende Projektionswand geworfen wird. Dabei gelingt im besten Sinne eine Überlagerung mit dem Live Painting von Stefanie Bartko: in Aquarell-, Schütt- und Collagetechniken entwickelt die Künstlerin einen Mitvollzug der Handlung um die erotische Lebensgestalterin Chrysis und den ihr hörigen, plastischen Gestalter Demetrios. Übermalungen von Gesichtern in der Projektion erfahren den Nachvollzug im Spiel, und der Darsteller des Bildhauers taucht als Mörder seine Hände tief in das schwere Rot des Live Paintings. Aus blutigen Relieftrümmern eines Tempeleingangs schält die bildende Künstlerin die von ihr zuvor ausgeschnittenen, collagierten und federzeichnend ergänzten, dann zerknüllten Gestalten neu hervor. Ist auch, wie die sterbende Chrysis sagt, „der schöne Traum [...] zu Ende“, so lebt er doch im Kunstwerk der Oper weiter.
Die Opernhandlung basiert deutlich auf Sigmund Freuds Traumdeutung und arbeitet offen mit Parallelen zu Strauss’ Salome, etwa wenn Chrysis Galiläa als das Land ihrer Kindheit besingt.
Noch bevor Oberleithners Einleitung einsetzt, erfolgt eine Einführungs-Darbietung der Produktions-Dramaturgin Britta Schönhütl in der Rolle des Librettisten („Sexualität als Teil des Lebens [...] Chrysis und Salome sind Erotik pur!“). So dauert die pausenlose, behutsam gekürzte und – abgesehen von einem großen Sprung vor der Arie des Demetrios – mit nachvollziehbaren musikalischen Übergängen stimmig zur Einheit gefügte Aufführung knappe zwei Stunden, die von den jungen Sängerdarstellern rollendeckend getragen werden. Stimmlich und darstellerisch ragt der Bariton Ludwig Mittelhammer als Demetrios heraus. Mit Leichtigkeit nimmt Josephine Renelt die Titelpartie, in deren Spiel eine Puderdose allerdings arg überstrapaziert wird. Als ihre noch schönere Gegenspielerin Bacchis punktet die lyrische Sopranistin Anna Karmasin, stimmlich fällt die Mezzosopranistin Nadja Steinhardt mit facettenreichem Volumen als Königin Berenike auf. In vielfältigem Einsatz bilden der Tenor Ingyu Hwang, der Bariton Carl Rumstadt und die Mezzosopranistin Maria Brunauer ein treffliches Ensemble, das – gemeinsam mit den anderen Solisten – auch die Chorpassagen dieser Oper homogen interpretiert.
Langer, herzlicher Applaus dankte alle Beteiligten für diese spannende Ausgrabung, der eine komplette Aufführung mit Orchester folgen sollte.