Übrigens …

Zur schönen Aussicht im Landestheater Coburg

Schaumwelt aus Pizzakartons

Eine Pension in Murnau am Staffelsee, wo der in den Jahren um 1930 viel gespielte Dramatiker wiederholt residiert hat, bot Horváth die Anregung zum Bühnenstück Zur schönen Aussicht, einem ungastlich maroden Hotel, in dem diverse verkrachte Existenzen koexistieren. Der Besitzer, vordem ein Schauspieler, der Kellner vormals ein Designer und der Chauffeur, ein ehemaliger Zuchthäusler, karessieren den einzigen Gast, die liebeshungrige, ältliche Gräfin Ada. Da taucht die verflossene Vorjahresbeziehung des Hotelbesitzers Strasser wieder auf: die Schauspielerin Christine hat ihr gemeinsames Kind umgebracht, aber nun unerwartet geerbt und will mit der Erbschaft das heruntergekommene Hotel des Geliebten modernisieren. Strasser hat Christines zahlreiche Briefe weder gelesen noch beantwortet, aber gelesen hat sie dessen Liebhaberin Ada – ein typisch Horváthscher Topos, der etwa auch in Don Juan kommt aus dem Krieg anzutreffen ist. (Dieses Drama steht seit Kurzem auf dem Spielplan des Berliner Ensembles – in einer sehenswert fesselnden Inszenierung.)

Strasser will Christine schnell wieder los werden und leugnet die Vaterschaft. Auf sein Betreiben hin, behaupten seine beiden Mitarbeiter Max (Mathias Renneisen) und Karl (Thorsten Müller), wie auch der hier ebenfalls einquartierte Gläubiger Müller (Niklaus Scheibli), im Vorjahr ebenfalls mit Christine geschlafen zu haben. Sie mobben und peinigen die junge Frau, bis sie von deren unerwartetem Reichtum erfahren. Nun zeigen die Männer plötzlich großes Interesse an ihr. Und der seine Schwester Ada aufgrund von Spielschulden anpumpende Bruder Emanuel (Nils Liebscher) bietet Christine sogar an, Baronin zu werden. Strasser aber bekennt, „Ich weiß nur, dass ich dich nun liebe, weil du zehntausend Mark hast“.

Das scheint in der Tat Stoff für eine (schwarze) Komödie, aber die Gattungsbezeichnung „Komödie“ führt in die Irre: der Autor schärft die in ihrer Kapitalismuskritik geradezu aktuelle Handlung zu einer Tragikomödie, in der das Tragische vorherrscht.

Immerhin entkommt Christine jener „schönen Aussicht“, die sich in Coburg hinter einem mit Pizzakartons angefüllten Regal postkartenkitschig auftut, nachdem die Kartons zunächst einzeln aus dem Gemäuer brechen, bis sie im Zuge der erwarteten Renovierung entsorgt werden. Allerdings sind all diese Kartons aus Schaumstoff, gleich der untiefen Quaderlandschaft jener verstaubten Wellness-Hotel-Welt in Gabriele Vöhringers Einheitsbühnenraum. In der pausenlos knapp zweistündigen, gewalt- und blutreichen Inszenierung von Konstanze Lauterbach steht rieselnder Sand für das Zusammenbrechen alter Werte. Jener Sand ist aber auch der Inhalt von Luxussektflaschen und tödliche Waffe – etwa beim Freitod des Freiherrn von Stetten. Bassige Klavierakkorde von Achim Gieseler, der für die Musik verantwortlich zeichnet, signalisieren den Exitus, allerdings reichen die Klänge Gieselers in ihrer Dichte und Klarheit bei weitem nicht an Gustav Mahlers hier wiederholt zitierte orchestrale Einleitung zum ersten der Kindertotenlieder heran. Auf einer sprachlichen Metaebene zitiert Lauterbach immer wieder Goethes Faust, beginnend mit dem sichtbaren Mord Christines an ihrem Säugling, mit allerlei Erinnerungszitaten an die junge Schauspieler-Liebe von Strasser (Faust) und Christine (Gretchen), endend mit deren Ausspruch „Müller, mir graut vor dir!“, einem der wenigen Lacher in der von mit besuchten dritten Aufführung.

Die durch ihre Arbeiten am Deutschen Theater, bei den Wiener Festwochen, am Burgtheater und an großen Schauspielbühnen – wie Leipzig, Bremen und Essen – gefragte Regisseurin führte erstmals im Coburger Schauspiel Regie – als Einspringerin. Dem Coburger Intendanten ist Konstanze Lauterbach offenbar durch gemeinsame Arbeiten am Staatstheater Wiesbaden, wo Bodo Busse Dramaturg war, verbunden. Busse führt das Landestheater mit einer geschickten Mischung von Redundanz und Innovation. In der vorigen (Wagner-)Saison hat er Peter Cornelius’ – durch die politische Großwetterlage rar gewordene – komische (Wagner-)Oper Der Barbier von Bagdad realisiert, in dieser Spielzeit folgte Lohengrin, der – in der Arbeitswelt der Sechzigerjahre angesiedelt – beim Publikum der Wagnerstadt durchaus auf Zuspruch stieß. Und Ende dieser Spielzeit koppelt Busse Glucks Orpheus und Eurydike mit Gustav Holsts Savitri.

Das von Oberspielleiter Matthias Straub gut geführte und geforderte Schauspiel-Ensemble begab sich mit Konstanze Lauterbachs Inszenierung Zur schönen Aussicht auf einen ungewöhnlichen Höhenflug. Wie stets, verlangte die Regisseurin ihren Darstellern neben der vollen, exzessiv emotionalen Bandbreite des Ausdrucks geradezu artistische körperliche Höchstleistungen ab.

Infolge einiger krankheitsbedingter Umbesetzungen übernahm Philippine Pachl, die in dieser Spielzeit als Nora und Stella ebenso brillierte wie singend in Kohlhiesels Töchter, die Christine – eine Leistung, mit der sie über sich selbst hinauswuchs. Noch kurzfristiger in die Probenarbeit eingesprungen ist Alexander Peiler als Strasser – ungewöhnlich facettenreich in Mimik und vielseitig in seiner Körpersprache.

Allerdings werden diese beiden Schauspieler, die auch das ungleiche Ehepaar in Ibsens Nora (als einer ungewöhnlichen Versuchsanordnung, unter gigantischem Weihnachtsbaum im Möbellager) verkörpert haben, das Landestheater Coburg mit Ende dieser Spielzeit verlassen: Peiler geht nach Marburg, Pachl nach Wuppertal.

Somit werden die Hauptpartien in Horváths Zur schönen Aussicht für die Wiederaufnahme in der kommenden Saison umzubesetzen sein, sicher keine leichte Aufgabe, aber denkbar angesichts der dichten Ensembleleistung der weiteren Protagonisten, hierarchisch angeführt von der ephebisch abgehobenen Kerstin Hänel als Ada Freifrau von Stetten.

Die von Bert Brecht geforderte „Spaltung des Publikums“ findet im Repertoire des Theaters heute selten mehr statt, an diesem Abend aber war sie deutlich zu konstatieren: einige Besucher, die sich von der Genreangabe „Komödie“ hatten irreführen lassen, verließen vorzeitig das Auditorium. Jene, die – trotz paralleler Fußball-Weltmeisterschaftsübertragung – blieben, dankten mit heftigem Applaus, aber auch im Foyer des trotz heftiger Wasserschäden prunkvollen Landestheaters waren noch heftige Diskussionen über Pro und Contra dieser Inszenierung zu vernehmen.