Tatjana im Staatsoper Hamburg

Neumeiers „Tatjana" - nur in Anlehnung an Puschkins „Eugen Onegin"

Zur Eröffnung der 40. Hamburger Ballett-Tage legte der langjährige, nimmermüde Hamburger Ballettintendant und Chefchoreograf John Neumeier sich ganz besonders ins Zeug, um seine große Anhängerschar zu erfreuen. Tatjana sollte sich in die lange Reihe zeitgemäßer Handlungsballette des Amerikaners als neues theatrales Kunstwerk nach Puschkins meisterlichem, fast 200 Jahre alten Versroman Eugen Onegin fügen. Anders als Peter Tschaikowskys hinreißende Oper von 1879 und John Crankos legendäre Stuttgarter Ballett-Neoklassiker von 1965 will Neumeiers Choreografie auf die Frau fokussieren und mit neuem zeitgemäßen Akzent über die riesige Bühne der Hamburgischen Staatsoper gehen, bevor der russische Partner, das Moskauer Stanilawsky und Nemirovich-Danchenko Musiktheater, es aufführen wird.

Libretto, Choreografie, Inszenierung und die komplette Ausstattung für Bühne und Kostüme nahm Neumeier selbst in die Hand. Mit der musikalischen Partitur beauftragte er die balletterfahrene Lera Auerbach. Nun aber erweist sich das Resultat als enttäuschend. Erschöpfend haben Puschkin, Tschaikowsky und Cranko diese Liebestragödie aus der russischen Adelsgesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts in ihrer jeweiligen künstlerischen Sprache erzählt. Für Neumeiers Idee, die vier Hauptcharaktere tiefer zu ergründen, blieb nicht einmal eine kleine Nische. Wie er seine Gedanken und Ansätze auch dreht und wendet: da ist nichts Neues oder gar Heutiges, das den Zuschauer berühren oder begeistern könnte. Fatal gestrig geradezu ist Neumeiers Idee, die beiden Duell-Sekundanten wie Todesengel durch die meisten der zehn Szenen geistern zu lassen.

Neumeier tut nicht das, was er am besten kann: große Literatur mit echten Charakteren grandios in Bewegung übersetzen. Man denke nur an Meisterwerke wie Endstation Sehnsucht, Die Kameliendame oder Peer Gynt. Wohl ahnend, dass Onegin nicht wirklich eine neue Interpretation braucht, ließ er sich verlocken, sich dem aktuellen Trend anzuschließen: „...nach Motiven von...." und natürlich mit original dazu bestellter Musik.

Aber was zu viel ist, ist zu viel. Auerbach lieferte ein schier endloses Konglomerat wenig origineller, gefälliger, pathetischer bis neckischer Orchestermusiken mit zahlreichen Zitaten und Anlehnungen an Prokofieff, Schostakowitsch und sogar Bach (wenn's ganz ernst wird), durchsetzt mit Solopassagen für Violine, Violoncello, Flöte nebst Kolorit von Xylophon und singender Säge mit zitternden Glissandi. Gezwungen in diese ausschweifende Musik, erstickt Neumeier auch das kleinste Fünkchen echten Lebens durch Redseligkeit in der Dramaturgie und unsäglich artifizielle Gestik vor allem für Onegin (Edvin Revazov). Das Sportive will so gar nicht zu dem grüblerischen, impulsiven Komponisten Lensky (warum blieb er nicht Dichter??) passen, wohl allerdings zu dem drahtigen Alexandr Trusch, der den Onegin-Freund tanzt. Leslie Heylmann als seine lebenslustige Verlobte Olga, deren Flirt mit Onegin das Duell provoziert, gibt eine hübsche Studie ab. Die Titelpartie meistert Hélène Bouchet darstellerisch und technisch mühelos - eine Marcia Haydée ist sie ebenso wenig wie die übrigen Solisten früheren Generationen der Stuttgarter und Hamburger Stars das Wasser reichen können.

Gerettet werden kann dieses sehr unfertig wirkende Ballett wohl einzig durch die rigorose Kürzung von drei auf zwei Stunden Aufführungsdauer (inklusive Pause).