Übrigens …

Charlotte Salomon im Salzburg

Breitwand-Gesamtkunstwerk

Die Tonsprache des 1961 geborenen Komponisten Marc-André Dalbavie mischt bekannte Musikzitate mit Elementen der „musique spectrale“. Der Einzelklang wird - auch durch Elektronik – aufgefächert. Dalbavies metatonale Kompositionstechnik, deutlich jenseits von Atonalität und Serieller Musik, macht sich zum Anwalt der späten Realisierung jenes Dramentextes, den die 1943 in Auschwitz ermordete Charlotte Salomon im Jahre 1939 in Südfrankreich als die Geschichte ihrer Familie, fiktiv überhöht, mit musikalischen Bezügen von Bach bis hin zum Filmschlager verknüpft, niedergeschrieben hat. Die zu ihre Drama Leben? oder Theater? entstandenen Bilder, heute im Jüdischen Historischen Museum in Amsterdam, werden zum Teil als Großprojektionen in die Szenerie der Uraufführung integriert, in einem Fall auch Entstehungsprozess animiert.

Für den Stoff fast all zu schön ist das musikalische Gewand, das vom Mozarteumsorchester unter der musikalischen Leitung des Komponisten brillant vermittelt wird. Schlüssig nachvollzogen wird Charlotte Salomons Verfahren, einen Text zu vokalisieren, ihn „unzählige Male mit lauter Stimme solange zu singen, bis das Blatt fertig scheint“, wie Charlotte es im Prolog der Oper erklärt. Imposant gelungen ist Dalbavie die Zeichnung von Donner und Blitz in der Natur, als einem Gewitter der Gefühle und der dezente, aber wirkungsvolle Einsatz von Elektronik, etwa wenn Charlottes Vater von der SA abgeholt und der Flügel elektronisch verstärkt wird. Stets textverständlich fokussiert der Komponist in der Oper Charlotte Salomon die menschliche Stimme, wobei seine Rezitativ-Technik an Debussys „Pelléas“ gemahnt. Fragwürdig ist der Einsatz des Schicksalsmotivs aus Carmen, nachdem zuvor Charlottes geliebte Stiefmutter Paulinka Bimbam (Anaïk Morel) wiederholt die Habanera aus Bizets Oper angestimmt hat. Spannender ist der Umgang mit den von Salomon vorgeschlagenen Musiken bei dem zunächst orchestral und vokal mit neuem Text besungenen Jungfernkranz aus Carl Maria von Webers Freischütz, wenn der dann orchestral verzerrt weiter gesponnen wird.

Für diese Szenenfolge hat Johannes Schütz auf der Bühne Felsenreitschule ein breites Panorama von zehn flach nebeneinander liegenden Räumen mit kinetischen Zwischenwänden errichtet. Über die Gesamtfläche gleiten Projektionen der farbigen, mit Texten versehenen Aquarelle der Multitask-Künstlerin, die mit ihrer Eltern und Großeltern in der Berliner Wielandstraße aufgewachsen ist, und, obgleich sie Jüdin war, an die Akademie für Malerei aufgenommen wurde. Nach dem frühen Suizid ihrer Mutter verliebt sie sich in ihre Stiefmutter, die allseits umworbene und als Sängerin international gefragte Paula Salomon-Lindberg, die in der Oper den Namen Paulinka Bimbam erhält. Aber sie verliebt sich auch in deren Gesangslehrer und Liebhaber Amadeus Daberlohn (Frédéric Antoun), der Charlotte entjungfert und ihr Bilder als Illustrationen für sein Buch abringt. Nach dem Pogrom der „Reichskristallnacht“ vom 9. November 1938 flüchtet Charlotte zu den zuvor bereits nach Südfrankreich emigrieren Südeltern. Dort als Deutsche inhaftiert, stürzt sich die Großmutter aus Angst vor den näher rückenden deutschen Truppen aus dem Fenster, und Charlotte erfährt, dass sich alle Familiemitglieder mütterlicherseits das Leben genommen haben. Sie tötet den Großvater, indem sie Veronal in ein schnell von ihr auf der Szene gebackenes Omelett mischt. Um nicht die Nächste in dieser Kette der Selbstmörder zu sein oder verrückt werden, beginnt Charlotte „etwas ganz verrückt Besonderes“: sie schreibt ihr Stück auf der Basis von etwa achthundert Gouachen.

Eine Auswahl dieser Bilder macht die Aufführung der neuen Oper zu einem besonderen, die Zeiten überspannenden Gesamtkunstwerk.

Die laut Salomon „ganz verrückt besondere“ Verbindung von Bild, Text und Musik, die spätere Entwicklungen der Kunst antizipiert, wird vom Komponisten in eine überordnend erzählende und in eine singende Charlotte aufgespalten. Charlotte Salomon, die erzählende Autorin, verkörpert Johanna Wokalek, von Moidele Bickel identisch kostümiert, im Verbund mit der jugendlich-dramatischen Mezzosopranistin Marianne Crebassa als Charlotte Kann. Seltsam nur, dass niemand der auch in zwei rhythmisch prägnanten Duettstellen zusammen mit ihrem Double zusammen singenden Schauspielerin gesagt hat, wie man das lateinische Wort „caput“ korrekt ausspricht.

Eine großartige stimmliche und darstellerische Leistung bietet die Altistin Cornelia Kallisch als Großmutter Frau Knarre.

Regisseur Luc Bondy erzählt die Handlung, bisweilen in Parallelaktionen der unterschiedlich definierten Zimmer, durchaus routiniert, wobei die Sängerdarsteller in bis zu sechs verschiedene Rollen schlüpfen. Aus Chaplins „Der große Diktator“ zitiert der Regisseur das niedrige Stühlchen für den Bittsteller, als der Begleiter der Paulinkas den Nazis seine Idee des Jüdischen Kulturbundes für Aufführungen der mit Berufsverbot belegten Juden vorschlägt ­– die dann, historisch gesehen, auch tatsächlich realisiert wurde. Wenn die junge Charlotte vom Liebhaber ihrer Stiefmutter verführt wird, so passiert dies hinter einem wehenden, blauen Tuch (als Meer) auf dem Deckel des Flügels; da sind die Bilder der Malerin durchaus direkter, mit den sich am Strand zunächst noch halb angezogen, dann nackt Liebenden. Und dass das Aktmodell in der Akademie ein weißes klassisch angehauchtes Gewand trägt, ist wohl der Tatsache geschuldet, dass diese Rolle mit einem Mitglied des Young Singers Projekt besetzt ist (Annika Schlicht), die als Sopranistin auch einen Satz zu singen hat.

Erstaunlich viele Jugendliche und Kinder besuchten die in deutscher und französischer Sprache gesungene Aufführung mit deutschen und englischen Übertiteln. Dass ein achtjähriges Mädchen in der Reihe vor mir nicht bis zum Ende durchhielt, ist nicht ihr Verschulden. Die Aufführung hat deutliche Längen. Die Partitur wurde für die Uraufführung bereits verkürzt, worauf eckige Klammern im Libretto-Abdruck des Programmheftes verweisen, aber anstelle der angekündigten 2 Stunden und 10 Minuten dauert sie pausenlose zweieinhalb Stunden. Vor dem „Nachwort“, das wohl besser als „Epilog“ zu bezeichnen und de facto noch ein weiterer Akt ist, erfolgt eine den Ablauf störende Umbaupause mit Licht im Auditorium.