Alles im (Stunden-)Hotel
Mit dem thematischen Hauptbezug der 94. Salzburger Festspiele im Zeichen des 100 Jahre zuvor begonnenen Ersten Weltkriegs hat Bechtolfs Lesart wenig zu tun, außer dass sich in der Lobby eines (Stunden-)Hotels viele Militaristen aufhalten, darunter auch Il Commendatore, der Vater von Donna Anna, die sich dem schwarz geschminkten Draufgänger gerne hingibt und ihn ebenso gerne für sich behalten will – wenn es sein muss, mit Waffengewalt. Wie Elisabeth im Tannhäuser stellt sie sich zwischen die Streitenden, den mit Degen hantierenden Vater und den waffenlosen Geliebten, aber Giovanni lenkt Annas Hand mit deren Dolch durch einen geschickten Dreh direkt in den Leib des Vaters.
Die Handlung beginnt bereits in der Ouvertüre, mit bisweilen zu lebenden Bildern erstarrenden Arrangements am Einheitsschauplatz, den Rolf Glittenberg spiegelbildlich um eine Mittelachse, mit Treppen zu den Zimmern des ersten Stocks, einem halbhohen Mittelabgang und zwei seitlichen Abgängen gestaltet hat. Im mittleren Zimmer, in welchem Giovanni und Anna zugange sind, wird eine hoch aufgereckte, nackte Frau mit Teufelsmaske sichtbar. Und hinter der Theke erscheint das bekleidete männliche Pendant. Beim Masken-Terzett reicht dieser Teufel Anna, Elvira und Ottavio einen Teufelstrank, der allerdings keine Folgen zeitigt. Noch einmal mischt sich dieser Teufel im ersten Finale ins Geschehen und lässt alle Festbesucher außer den Solisten dem in rotem Gewand auf der Empore stehenden Giovanni zujubeln. Aber nach diesem finalen Tableau vivant ist die Teufelsidee vergessen.
In einem derartigen Raum lässt sich die Friedhofsszene schwer integrieren. Also wird vom Hotelpersonal eine Büste des Komturs in der Mitte des Raums aufgestellt; die sonst von Leporello verlesene Grabinschrift entnimmt er dem Aufdruck der Schleife eines Ehrenkranzes. Der steinerne Gast erscheint dann wenig Angst einflößend in blauem Licht mit einem Duplikat seiner Büste als Kopf.
So wenig die hier gewählte Location für Don Giovanni neu ist (meines Wissens siedelte der Herz-Assistent Bisser Schineff die Handlung 1991 erstmals in einem Hotel an), ist es neu, dass Leporello die Amouren seines Herrn als Fotograf dokumentiert (1980 in Kassel filmte Leporello in der Maske von Andy Warhol alles per Videokamera) oder dass Don Giovanni die Höllenfahrt überlebt.
Bechtolf, der im Vorjahr Nestroys Lumpazivagabundus wirkungsvoll inszeniert hat, hätte konsequenterweise die Wiener Fassung des Dramma giocoso, mit den dem Wiener Volkstheater geschuldeten Szenen, etwa an Fensterflügel angebundenen Leporello, wählen sollen, anstatt nur die Arien von Donna Elvira und Don Ottavio aus der Wiener Fassung zu integrieren, das in der Urfassung stimmige dramaturgische Gefüge zu zerstören. Auch die Ausführung der Secco-Rezitative am Hammerklavier (Enrico Maria Cacciari) in ungewöhnlicher Breite, mit langen Kunstpausen und hinzuerfundenen Improvisationen, tragen zur Verlängerung des Abends auf über dreieinhalb Stunden bei.
Stimmlich liegen hier Anna, Elvira und Zerlina lyrisch nahe bei einander. Überzeugender als die in rotem Unterrock sinnlich agierende Lenneke Ruiten als Donna Anna und als die ihre Absicht in ein Kloster zu gehen kostümlich schon vor der Zeit als weiße Nonne zur Schau stellende Donna Elvira von Anett Fritsch, gefällt das beim Brautkleid-Strip wie in der stimmlichen Entfaltung überaus geschmeidige Zimmermädchen Zerlina von Valentina Nafornita. Das stumme Kammermädchen Donna Elviras wird im ersten Akt reichlich in die Aktion integriert, ist dann aber bei dem an sie gerichteten Ständchen seltsamerweise nicht mehr zugegen.
Schwache Eindrücke vermittelten die Bassisten Tomasz Konieczny als Il Commendatore und Alessio Arduini als Masetto. Blass auch Andrew Staples als ein sich auf tragenden Piano-Gesang verlassender Don Ottavio. Mit komödiantischer Darstellung und stimmlich facettenreicher Gestaltung gefällt Luca Pisaroni als der mit Fotoapparat bewaffnete und mehrere Koffer mit Fotos und Alben mit sich schleppende Chronist Don Giovannis. An stimmlicher und darstellerischer Kraftentfaltung übertroffen wird der am Ende die Priester-Soutane anlegende Leporello vom draufgängerisch agierenden, bisweilen falsettierenden Bariton Ildebrando d’Arcangelo in der Titelrolle. Der Regisseur deutet ihn, im Gegensatz zum „pornografischen Durchschnittswüstling des 21. Jahrhunderts“, als „einen romantische[n] Held von metaphysischen Dimensionen“. Aber Sven-Eric Bechtolfs Bemühungen, Don Giovannis Leitspruch „Viva la Libertà“ herauszuarbeiten („Da uns nichts mehr heilig ist, ist uns auch nichts unheilig“), läuft ins Leere.
Die wenigen Einsätze des von Walter Zeh einstudierten Philharmonia Chores Wien gelingen einwandfrei, genussvoll Lauro Complojs Mandolin-Solo.
Wenig Profil bietet hingegen Christoph Eschenbach als musikalischer Leiter der Aufführung. Die Wiener Philharmoniker spielen überaus routiniert, aber mit Dauer-Sparflamme. Der Bogenschlag zu dem auch in den Kostümen Marianne Glittenbergs dargestellten 20. Jahrhundert, der mit diesem Spitzenorchester denkbar wäre, unterbleibt. Zu den Positiva der Aufführung zählt die im ersten Finale auf der Szene ausgeführte Bühnenmusik der drei mit unterschiedlichen Tänzen gegeneinander anspielenden Instrumentalgruppen.
Die von ServusTV in Kooperation mit Unitel Classica live übertragene Aufführung erntete beim Publikum vergleichsweise müden Applaus.