Musikalischer Festspielsommer für Horváth
Als Ouvertüre eine gesungene Vorhangnummer der neun Damen, die sich in alle weiblichen Rollen der Spielvorlage teilen: unisono, bisweilen im Oktavabstand, singen sie ein Kriegslied („Im Feld, da ist der Mann noch was wert!“), das der noch unkenntliche, einzige überlebende Mann dieses Kriegsgeschehens entzündet. Hinter einer Gasmaske rhythmisiert dieser Don Juan auf einer aufgestellten Trommel den differenziert ausgedeuteten Gesang mit Schlägen auf die österreichische Haut, denn das Trommelfell ziert das Austria-Wappen. Die Frauen fangen die den Einheitsspielort verdeckende weiße Gardine auf, winden sie zu ihrem gemeinsamen Schicksals-Band und zum Rücken eines langgestreckten Pferdes. Und das ist erst das Opening. Regisseur Andreas Kriegenburg, der an der Münchener Oper u. a. den Ring des Nibelungen inszeniert hat, ermutigte seine brillanten Darstellerinnen, „den Text auch zu singen“, die „eigentümliche und sehr, sehr faszinierende Musikalität“ der Kunstsprache des Autors direkt in Klänge umzusetzen.
Der Himmel des vom Regisseur selbst gestalteten Bühnenraums hängt voller Feldpostkarten und -Briefe, vergeblicher Rechtfertigungen und Hoffnungen, welche die Frauen auf Leitern erklimmen, um die Botschaften in deutscher und französischer Sprache singend, chorisch sich überlappend, zu rezitieren. Mit Mikroports behutsam verstärkt, entsteht so eine Art von Sirenengesang, der realiter zum Geheul von Warnsirenen anschwellen kann, von Wolfram Schild und Martin Sraier-Krügermann klanglich strukturiert und von Edwin Pfanzagl unaufdringlich zu einem Raumklang gesteigert.
Die Frontschauspielerinnnen, an deren Eine sich Don Juan in Operettenrollen erinnert, deklamieren – aufgrund der Friedensproklamation brot- und ratlos – in durchsichtigen Reifröcken auf Koloraturketten der Königin der Nacht: Sprechgesangs-Paraphrasen jenseits von Karikatur und Persiflage.
Gregorianischer Choral und liturgische Antiphonen leiten nahtlos über in vielstimmig syllabische Vokalisierungen und spieluhrartige Repetitionen, sorgen für einen inneren Drive der knapp pausenlosen, knapp zweistündig circensisch durchchoreographierten Aufführung.
Der verbale Schlagabtausch „Gibt es denn nirgends ein Lokal ohne Musik? – Nirgends“ wird zum Agens der Tanzszene: zu den Klängen eines verstimmten Klaviers tanzt Don Juan mit der Kunstgewerblerin (Sonja Beißwenger), deren vertikal geteiltes weiblich-männliches Kostüm Andrea Schraad dem Circus Roncalli abgeguckt hat. Die junge Grete, die den Don Juan mit Lolita-Erotik becirct und von ihm Schlittschuhe geschenkt bekommt, sorgt permanent steppend für den Grundrhythmus der Szenen im Haus der bigott-mannstollen Professorinnen-Witwe (Olivia Grigolli). Beim Quartett des Kaffeekränzchens zitiert Kriegenburg das Schlagen mit Kaffeelöffeln aus der Kaffeehausszene von Zimmermanns Soldaten, die er ebenfalls in München inszeniert hat; eine der Damen produziert dazu mit ihrer Halskette rhythmisch kratzende Geräuschkunst. Das Wort „Massengrab“ wird zu einem rabenartig krächzenden Kanon des Echos „Rab’ - Rab’ - Rab’“.
Eine besonders virtuose Nummer integriert der Regisseur aus Mozarts Don Giovanni, um so die Wirkung des Verführers auf die Frauen auf einer Metaebene ironisch zu brechen: Aus zwei Tischgestellen als Brüstung und zwei fahrbaren Garderobeständern als Rückwand werden Logen, in denen zwei der Frauen die Elvira-Szene, als Karaoke
Mitsingend, mit-erleben; die Eine (Traute Hoess), indem sie sich mit Süßigkeiten vollstopft, die Andere (Elisa Plüss), indem sie sich hemmungslos über Gebühr pudert (auch als Wortwitz in der österreichischen Bedeutung des Wortes) und Nies-Ergüsse produziert. Anschließend tanzt die Fette („Auch Dicke können leichte Mädchen sein!“) mit Fettpolsterkissen unter durchsichtiger Wäsche, von Don Juan wie eine Feder in die Luft gehievt, auch noch Khatschaturians Säbeltanz (auch diese Musikauswahl erfolgte wohl nicht ohne Wortwitz).
Der nächtliche Krach zwischen der bisexuellen Kunstgewerblerin und ihrer lesbischen, als Mann kostümierten Partnerin (Sabine Haupt) wird zu einer dramaturgischen Paraphrase auf die Prügelfuge in den Meistersingern, hier mit dem Obligato „Ruhe!“ einer im Schlaf gestörten Frau, die mit Kissen am Hinterkopf, ihre Mahnungen aus einem durch den Raum geschobenen, beleuchteten und mit Vorhängen versehenen Fensterchen singt.
Max Simonischek (Sohn des gefeierten Salzburger Jedermann-Darstellers Peter Simonischek) ist der abgeschlaffte und überdrüssige Held im Nachkriegs-Stellungskampf mit der Matratze. Der Überdruss über die ihn begehrenden, ihm keine Ruhe gönnenden Frauen – vielseitige Bravourstückchen in Sachen Männerbedarf bieten auch Janina Sachau, Nele Rosetz, Natali Seelig, Michaela Steiger – lässt Don Juan die Professorenwitwe regelrecht vollkotzen. Und seine Reflexion über das Wort Lüge, gegen eine sich hoch und höher schraubende Minimal Music-Figur, wird zu einer virtuosen Sprecharie, welche an das Bild der keineswegs kurzen, sondern durch die Jahrhunderte reichenden, langen Beine der Lüge in Siegfried Wagners Walamund gemahnt.
Die Hoffnung Don Juans auf den Hafen der Ehe mit einer jungen, verlassenen Braut erfüllt sich nicht. Die junge Frau ist bereits drei Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs verstorben, und an seinen unbeantworteten Briefen von der Front und auf der sich anschließenden Suche nach ihr, hatte sich nur deren hexenhafte Großmutter (Traute Hoess) aufgegeilt.
Jene neun Frauen, die mit weiß geschminkten Gesichtern und roten Lippen in die 35 verschiedenen Rollen rund um den Kriegsheimkehrer geschlüpft waren, schleppen nun im Kollektiv veritable Einsblöcke auf die Bühne, zerhacken die Quader und begraben/konservieren den Schneemann Don Juan im Eis.
Der mit grotesken Bilderfindungen und köstlichen, bisweilen reduzierten, zumeist aber überdrehten Charakteren aufwartenden, opernhaften Aufbereitung der Spielvorlage entsprechend, ist der Beifall in der dritten Aufführung stürmisch und enthusiastisch: Bravorufe auf der Perner Insel, wie sie sonst nur in den Festspielhäusern und dort für Opern zu vernehmen sind.