Übrigens …

Die letzten Tage der Menschheit im Salzburg

Wetteifer von Sprachgewalt, Blasmusik und Elektronik

Ein Drittel der von Karl Kraus (1874 – 1936) zusammengetragenen und mit der ihm eigenen Sprachgewalt in den Jahren 1915 bis 1922 geformten Szenen sind Zitate – aus Zeitungs-, Heeresberichten und Gerichtsurteilen. Eine Lesung des kompletten Textes dauerte 16 Abende. Szenische Realisierungen durch die Regisseure Hans Hollmann in Basel, Wolfgang Engel in Dresden oder Peter Eschberg in Frankfurt kamen zwangsläufig zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen.

Für die Salzburger Aufführung, eine Koproduktion mit dem Burgtheater Wien, hat der österreichische Regisseur Georg Schmiedleitner etwa fünfzig Szenen zu einer viereinviertelstündigen Fassung zusammengestellt – im Bestreben, Bezüge zur Gegenwart deutlich zu machen. Endet die Szenenfolge bei Karl Kraus mit der Stimme Gottes, „Ich habe es nicht gewollt“, so berichtet in der Neuinszenierung lachend und stolz ein Kriegsverbrecher aus Graz mit dem abgeschnittenen Kopf eines Italieners in der Plastiktüte über seine Gräueltaten, sein konsequentes Niedermetzeln von Fremden und seine Faustschläge ins Gesicht der Untergebenen, denen er aber auch Gutes getan habe: ein von ihm vergewaltigtes serbisches Mädchen habe er anschließend seinen Untergebenen überlassen und erst am nächsten Morgen über dem Fluss aufgehängt; als dann der Strick riss, habe er so lange auf die Wasser Treibende geschossen, bis diese nicht mehr zu sehen gewesen sei. Diese Erzählung stammt allerdings nicht aus Karl Kraus’ Szenenfolge; sie erinnert mich an Statements in Peter Weiss’ Die Ermittlung.

Gemeinsam mit Tommy Hojsa komponierte Matthias Jakisic, parallel zu den Proben, eine zumindest an Lautstärke über die Worte dominierende Musik für eine 25-köpfige Blasmusikkapelle und einen Schlagzeuger (Lenny Dickson). Stärker als bei einer klassischen Bühnenmusik mischen sich verstörende Akkordeon-Klänge, aggressives Schlagwerk und eine elektronisch verfremdete Violine mit den raumverzerrt gebrochenen Stimmen der Darsteller zu einer verwirrenden Klangebene und lösen die Absicht der beiden Komponisten ein: „es wird brutal. Es wird skurril. Es wird weh tun. Und das soll es auch.“

Hojsas Bühnenmusik integriert Melodiefragmente, Walzer, Wienerlied und Märsche, allerdings harmonisch verfremdet. Spätestens wenn die Bläser im Rücken des Publikums aufspielen, wird die Nähe zur Beschallung im Kino deutlich: österreichische Frohnatur als Universalkraft gegen die Grausamkeiten von Krieg und Mensch. Die „nervöse[n] Flächen“ dieses Soundtracks sollen, so Jakisic das Publikum „unterschwellig beunruhigen“ und gleichzeitig der Intention des Dichters, einem „Marstheater“ nahe zu kommen.

Insgesamt zeugt dieses Kompositionsverfahren Verwandtschaft zu der ebenfalls auf Musikzitaten basierenden Komposition Marc-André Dalbavies bei der Salzburger Uraufführungsproduktion Charlotte Salomon.

Szenisch gelungen ist der Einsatz der Postmusik Salzburg“ als einem Heer, geformt aus einer Musikkapelle. Wie diese uniformierten Damen und Herren unter der musikalischen Leitung von Franz Milacher, bis zum letzten Moment sauber intonierend, auf der rotierenden Drehbühne zu Boden sinken, um sich bei den Schlägen der großen Trommel wieder zu erheben, das gehört zu den eindrucksvollsten Momenten dieser Inszenierung.

Volker Hintermeiers Bühne nutzt die vorhandene Bühnentechnik einer hydraulisch versenk- und hebbaren Drehbühne, setzt eine Showtreppe als Gegenlicht-Blendwerk ein und lässt vor der Pause die gebaute Rückwand, in drei Etagen bestückt mit den Blechbläsern, an die Rampe fahren.

Dreizehn Schauspieler, darunter auch Gregor Bloéb als Optimist, Sven Dolinski und Petra Morzé, Alexandra Henkel, Thomas Reisinger und Laurence Rupp, springen in insgesamt 56 Rollen. Schmiedleitners Absichten, Kraus’ „Manipulation über die Sprache“ deutlich zu machen und so den Bogen zu schlagen zur „Verrohung der Medien" gelingt unterschiedlich gut. Die grundsätzlich akustisch verstärkten, von Tina Kloempken in zumeist graue Kostüme gewandeten Schauspieler scheitern sprechtechnisch all zu oft an der Überlagerung der verschiedenen Texte und Musiken.

Zu den schauspielerischen Höhepunkten gehört das immer wieder unterbrochene, noch nach seinem Tod vom Monarchen in weiteren Strophen gesungene Couplet Kaiser Franz-Josephs, „Mir bleibt auch nichts erspart“; für Peter Mati? gibt es in dieser Szene die einzigen Lacher dieser – im Gegensatz zu Kraus’ Ironie – todernsten Aufführung.

Dörte Lyssewski rezitiert die originalen Texte der Kriegsberichterstatterin Schalek. Einen Endlospapierausdruck von Karl Kraus’ Drama gestaltet sie zu einer Landschaft mit Untiefen und Bergen, mit dem Fazit „Putzen heißt Massakrieren“. Köstlich ist Elisabeth Orth als unbelehrbar (auf)rechter Volksschullehrer, trefflich Christoph Krutzler als Ganghofer und als skrupelloser Wiener Viktualienhändler, mit in einer egozentrischen Mentalität, wie sie bisweilen heute noch in der Wiener Metropole anzutreffen ist. Als Priester verkündet Stefanie Dvorak im Flugwerk, dass Jesus’ Wort „Liebet eure Feinde“ im Krieg außer Kraft gesetzt sei.

Weniger überzeugt Dietmar König als Nörgler, Kraus’ Alter ego: der Satiriker, Mahner und Übertreiber, nicht nur mikroportverstärkt, sondern bisweilen auch noch mit Megaphon.

Die dem Lesedrama innewohnende dramaturgische Struktur, etwa durch die immer wiederkehrenden Treffen dreier Österreicher und ihre Kommentare zur Kriegssituation, geht verloren, wenn diese in monologischer Form abgehandelt werden.

Dennoch hielt ein Großteil des Publikum auch in der von mir besuchten fünften Aufführung tapfer durch und spendete am Schluss einhellig Beifall.

Als der Dichter im Jahre 1921 vom Deutschen Landestheater in Prag um die Aufführungsrechte gebeten worden war, hatte er seine Ablehnung damit begründet, dass „ein Zurücktreten des geistigen Inhalts vor der stofflichen Sensation wohl unvermeidlich“ wäre. Die Neuinszenierung der Salzburger Festspiele hat diese Befürchtung eingelöst.