Endstation Sehnsucht im Schauspiel Frankfurt

Endstation und Sehnsucht

Frankfurts Stanley Kowalski und Blanche DuBois sind tot. Sagenumwoben sind die Rollen-Interpretationen von Guntram Brattia und Susanne Lothar, die vor genau elf Jahren am Schauspiel Frankfurt in Burkhard C. Kosminskis Regie Endstation Sehnsucht spielten - zwei grandiose Schauspieler, die inzwischen viel zu früh und unter tragischen Umständen ihr Leben ließen. Der Unterzeichner gab sich als Banause und warf Blanche seinerzeit „Pathos, Kitsch und unerträgliche Hysterie“ vor. Aber ausnahmslos alle überregionalen Kritiker erklärten die Aufführung zu einer bahnbrechenden Inszenierung des inzwischen knapp 60jährigen naturalistischen Südstaaten-Dramas. Susanne Lothar sei eine „Schneekönigin von einem Theaterstern“ jubelte der stets überkritische Gerhard Stadelmaier in der FAZ. Darauf ist noch zurückzukommen.

Nur zehn Jahre und elf Monate später hat der Dortmunder Schauspiel-Intendant Kay Voges mit dem Stück von Tennessee Williams sein erstes Auswärtsspiel am Schauspiel Frankfurt absolviert. Und wieder ist es ein gigantischer, kraftvoller Abend geworden, dessen Wucht den Zuschauer zum Schluss erschüttert im Theatersessel zurücklässt. Die nationale Theaterkritik ist diesmal jedoch gespalten - große Zustimmung und herbe Kritik halten sich die Waage. Weil das Dortmunder Schauspiel, unter Voges zum avanciertesten Theater in Nordrhein-Westfalen geworden, immer noch kaum überregionale Aufmerksamkeit erhält, waren viele Frankfurter Kritiker mit dem Forschungsgegenstand und Inszenierungs-Stil des Regisseurs noch nicht vertraut. Der macht nämlich längst schon keine reine Bühnenkunst mehr. Er experimentiert mit der Verschmelzung von Theater und Film. Und da können die Schauspieler auf der Bühne schon mal merkwürdig blass aussehen und gleichzeitig eine herausragende Leinwand-Präsenz erhalten. Wie jetzt in Frankfurt.

Dort sorgt schon die Bühnenkonstruktion dafür, dass der Live Act im Vergleich zur Video-Projektion in den Hintergrund rückt - und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. In Daniel Roskamps Triptychon werden links und rechts die von zwei Kameraleuten live produzierten Bilder der Aufführung auf riesige Leinwände projiziert. Da die reale Bühnenausstattung räumlich ein wenig hinter den beiden Video-Screens platziert ist und die Sprache der mit Mikroports ausgestatteten Schauspieler ausschließlich über die Lautsprecher an den Leinwänden zu hören ist, konzentriert sich der Zuschauer automatisch mehr auf das filmische Werk als auf das Geschehen auf der Bühne. Daniel Hengst, der die Bilder mischt und schneidet, lenkt den Blick auf bestimmte Details der Aufführung - spontan entscheidet er an jedem Abend je nach Verlauf der Aufführung neu, welche Ausschnitte ihm wichtig sind. Übertragen wird auch aus Nebenräumen der Wohnung von Stella und Stanley Kowalski, die der Zuschauer niemals im Original zu Gesicht bekommt. Bis in die hintersten Reihen des Zuschauerraums wird jede Regung der Schauspieler in Großaufnahme sichtbar.

In der Mitte sieht der Zuschauer das Geschehen auf der realen Bühne, also ohne Fokussierung auf einen bestimmten Blickwinkel, aber trotzdem manchmal nur im Anschnitt. Dank der Drehbühne gibt es drei verschiedene Schauplätze. Besonders eindrucksvoll wirkt die Außenansicht des heruntergekommenen Hauses mit einem angegammelten alten Pick-Up SUV, mit Autoreifen und halb zusammengebrochenen Billig-Camping-Stühlen sowie einer Außentreppe zur Wohnung von Eunice. (Susanne Buchenberger gelingt in dieser kleinen Nebenrolle die wunderbare Miniatur einer sympathisch-prolligen Rhein-Ruhr-Schickse.) Dass die Inszenierung einen experimentellen Hintergrund haben wird, ahnt man beim Blick auf ein riesiges Plakat an der Fassade des Hauses: Es weist auf eine (real existierende) Inszenierung des Stückes in der Regie von Iman Crutcher hin - „with an all female (and couloured) cast“. Die junge Chicagoer Regisseurin Crutcher will mit dieser Besetzung nach eigener Aussage auf das Problem sexueller Gewalt in verschiedenartigsten nicht heterosexuellen Paarbeziehungen aufmerksam machen. Nun, die Transgender-Problematik spielt in Voges‘ Inszenierung keine wesentliche Rolle, häusliche Gewalt umso mehr.

Der Hinterhof steht mit seiner Mixtur aus 60er Jahre-Hollywood und Popart exemplarisch für die Ästhetik der gesamten Inszenierung. Hollywood zelebriert über lange Zeit der Aufführung auch Stephanie Eidt als Blanche - die gestörte Frau, die in Stanley und Stella Kowalskis Prekariats-Wohnung aufschlägt und immer noch von einem Leben als Millionärsgattin träumt, die traumatisiert ist vom frühen Tod eines frühen Lebensgefährten, an dem sie nicht ganz unschuldig ist, die das zur Hälfte ihrer Schwester Stella zustehende Erbe versoffen und verhurt hat. Die auf der Suche nach Liebe ihr Heil nur noch in wahllosem Sex findet und ihre Stellung als Lehrerin nach der Verführung eines minderjährigen Schülers verloren hat. Und die in nüchternen Momenten immer noch auf Grande Dame macht. Stephanie Eidt gibt diese Blanche zunächst als nervöse, präpotente Zicke, intrigant und boshaft, aber mit ihrem aufgesetzten Selbstbewusstsein stets auf dünnem Eis wandelnd. Zunehmend angesäuselt flüchtet sie sich in Flirts, in den trügerischen und betrügerischen Versuch einer Beziehung zu Mitch, den Viktor Tremmel äußerst wandlungsfähig als das einzige halbwegs anständige Mitglied von Stanleys abtörnender Unterschichts-Bowlingrunde gibt. Scheinbar kehrt Eidt zu Beginn ein wenig zu stark die Hollywood-Diva heraus. Doch umso heftiger wirkt ihre gnadenlose Entzauberung. Wenn die Fassade fällt, wird die völlig zerrüttete Blanche zu einem erschütternden Wrack - und ihre Verzweiflung fügt dem Zuschauer physische Schmerzen zu.

Illusionslos und mit aller Härte inszeniert Voges die testosterongesteuerte Macho-Welt des Unterschicht-Rambos Stanley. Zunächst gibt Oliver Kraushaar noch den Möchtegern-Womanizer, wenn auch mit unkultiviertem Charme und brutaler Direktheit. Doch bald wird diese Brutalität auch physisch spürbar, eskalierend in den Prügeln für die schwangere Stella, die eine vorzeitige Geburt auslösen, und der Vergewaltigung von Blanche. Voges nimmt auf zartbesaitete Zuschauer keine Rücksicht. Und er schert sich nicht um political correctness: Stellas und Blanches Diskussion über Stanleys Gewaltexzesse würde jede wackere Feministin auf die Barrikaden treiben. Gattin Stella, von Claude De Demo großartig als süße Naive, als unbefangenes, fröhlich sich mit dem sozialen Abstieg arrangierendes Weibchen verkörpert, hadert nicht mit ihrem Macho-Mann. In Prolltown lacht man über Brutalitäten zwischen Mann und Frau: Was sich liebt, das schlägt sich. Die zwar nicht gerade mit einem einwandfreien Lebenswandel punktende, aber kämpferische Blanche dagegen ist schockiert und unglücklich. Die einzige wirkliche Emanze ist Eunice: Die verkloppt ihren Mann mit dem Nudelholz ...

Voges‘ Interesse an diesem Stück gehört aber dem, was in den Träumen und den Alpträumen passiert, im Unterbewusstsein der Figuren. Daniel Hengsts Videoproduktion arbeitet mit Glitches, mit kurzen Bildstörungen wie sie beim Komprimieren von Video-Dateien auftauchen können: Flackernd werden dann die Gedanken und Träume der Figuren eingeblendet. Die Bildstörungen entsprechen den Rissen in der Seele, den psychischen Störungen der Charaktere. Animationen mit tanzenden, den Schauspielern ähnelnden Horrorfilm-Puppen mit verformten Köpfen und Masken bedrängen die psychisch zerrüttete Blanche - so wie sie sich die Wirklichkeit schönredet, zeigen diese Figuren ihr die Ausweglosigkeit und Hässlichkeit ihres Lebens auf.

Voges‘ Sympathie in dieser Inszenierung gehört der unglücklichen Blanche und ihrer unstillbaren Sehnsucht. Der Frau, die einen Zauber leben und die Wirklichkeit ausblenden möchte. „Wenn du in dieser Welt die Nase vorn behalten willst, musst du an dein Glück glauben“, ruft Blanche gegen Ende, doch es schallt zurück: „Lügen, Blanche, nichts als Lügen.“ Dreimal entfährt Blanche in den letzten dreißig Minuten ein markerschütternder Schrei. Nicht pathetisch, nicht kitschig, nicht hysterisch - nein, die Verzweiflung über die Grausamkeit der Welt bricht sich Bahn. Elektronisch verstärkt gehen einem diese Schreie so nahe als spüre man Blanches Leid am eigenen Leibe. Und plötzlich ist sie wieder da, die Schneekönigin, von der Stadelmaier bei Susanne Lothar gesprochen hatte. Die schweren Jungs von der Psychiatrie holen Blanche ab, wie es bei Tennessee Williams im Buche steht - und Stephanie Eidt steht mit weit ausgebreiteten Armen im weißen Hochzeitskleid vor dem Breitwand-Prospekt der geschlossenen Leinwand. Herunter klappt ein blauer Sternenhimmel. Für Blanche ist Endstation, doch immer noch trotzt ihre Sehnsucht der Realität. Und so endet Voges‘ ruppig-raue Inszenierung in tiefem Schmerz und doch mit einem wunderschönen, poetischen Bild.