Ein großer Totentanz
„Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen“, heißt es im Korintherbrief des Apostel Paulus, und damit behauptet sich Paule souverän in der Hitliste der beliebtesten biblischen Evergreens: Gefühlt die Hälfte der verheirateten Bevölkerung hat den hübschen Aphorismus als Trauspruch. Für Ödön von Horváths bemitleidenswertes Fräulein Elisabeth, die tragische Heldin seines in Anlehnung an Paulus mit Glaube Liebe Hoffnung betitelten Sozialdramas, hat eigentlich Dante Alighieri das passendere Motto geschaffen: „Lasset alle Hoffnung fahren“ heißt es bei dem Italiener am Eingang zur Hölle. In der Hölle kleinbürgerlicher Vorurteile und Spießigkeiten sowie stupide angewandter Paragraphen wird Elisabeth, die eigentlich nichts weiter als 150 Mark für einen Wandergewerbeschein zum Überleben braucht, sich heillos verstricken. Denn dummerweise benötigt sie diesen Betrag zweimal: Die arme reine Seele muss in gleicher Höhe Schulden zurückzahlen und greift voller guter Absichten zu einer kleinen Trickserei. Und schon befindet sie sich in einem ausweglosen Abwärts-Strudel. Liebe ist in solch einer Situation allenfalls Mittel zum Zweck - entsprechende Versuche gehen prompt krachend schief. Glaube schimmert in Andreas Kriegenburgs Frankfurter Inszenierung höchstens in den hinzuinszenierten Kantaten durch. Und die Hoffnung? „Ich lasse den Kopf nicht hängen“, sagt Elisabeth zum Schluss. „Es soll ja noch schlechter werden.“ - Minuten später ist sie tot.
Einen „kleinen Totentanz in fünf Bildern“ nennt Ödön von Horváth im Untertitel sein im Jahre 1932 entstandenes, aber erst vier Jahre später verschämt in einem kleinen Wiener Theater uraufgeführtes Stück. (Heinz Hilperts große Berliner Sause mit dem gesellschafts- und obrigkeitskritischen Drama hatten die Nazis 1933 vorsorglich verboten.) Unter- und Zwischentitel sowie Regieanweisungen werden in Kriegenburgs Inszenierung vom Ensemble mitgesprochen - und tatsächlich hat der Regisseur einen Totentanz aus dem Stück gemacht. Keinen kleinen, sondern einen großen. Einen großartigen, um genau zu sein.
Zu einem Totentanz gehören die entsprechenden gespenstischen Figuren. Bleiche Gesellen zum Beispiel: Geister, Skelette, Zombies. Und zu einem (Toten-)Tanz gehört Musik. Für die ist Gaby Pochert zuständig. Nebenberuflich spielt sie in dieser Aufführung eine Arbeiterfrau - meist aber wandert die Musikerin von links (Klavier) nach rechts (Harmonium) und wird so zu einer der wichtigsten Gestalterinnen des Fluidums dieser Inszenierung. Nicht nur an den Tasten, sondern auch an den Saiten: Wenn sie wandert, entlockt sie die Melodien, für die sie zuständig ist, ihrer Violine. Bach und Chopin verwöhnen unser Ohr - und ab und zu auch etwas Schrammel-Musik, was der Erzählung dann etwas Moritatenhaftes verleiht. - Für die Musik ist aber auch Franziska Junge zuständig, Mitglied des Frankfurter Schauspiel-Ensembles und mit einer beeindruckenden Singstimme gesegnet. Sie spielt die Maria, ein ähnlich armes Hascherl wie Elisabeth, und singt zwischen den Szenen vorzugs- und sinnigerweise die Kantate für das Fest der Mariä Reinigung: „Ich habe genug“. Das Tröstende dieses religiösen Textes allerdings findet sich in Horváths Drama nicht wieder. „Schlummert ein, ihr matten Augen, / Fallet sanft und selig zu! / Welt, ich bleibe nicht mehr hier, / Hab ich doch kein Teil an dir …“ heißt es konsequenterweise wenig später in der von Junge gesungenen Arie. Da spätestens scheint Elisabeths Selbstmord vorweggenommen.
Solche Sangeskunst ist schön, entfaltet eine elegische Atmosphäre und wirkt bei aller Traurigkeit harmonisch. Gesungen wird manchmal aber auch vom gesamten Ensemble - und das besteht mit Ausnahme der Elisabeth ausschließlich aus Totentänzern. „Was soll denn aus uns werden, wenn alle Leute sterben … schon wieder einer tot“, trällern sie vor sich hin und hinken ganz langsam im Gleichschritt nach vorn an die Rampe. Es ist die Auftakt-Szene - und in der Mitte liegt Elisabeth, ganz klein in Embryo-Haltung auf einem nackten Abbild ihrer selbst - tot. Kriegenburgs Bühnenbild glaubt der Rezensent, der die Aufführung drei Monate nach der Premiere besuchte, schon zigmal gesehen zu haben - es wird wohl eine der Ikonen der Bühnenbildkunst dieser Spielzeit, denn es gräbt sich nach einmaligem Anblick in der Zeitung schon tief in das Gedächtnis. Elisabeth, von allem Leid der Welt erdrückt und erschlagen, hilflos zurück im Urzustand - das ist ein Bild wie die Aufführung: zeichenhaft, doch ästhetisch schön und einfühlsam.
Die nach vorn hinkenden restlichen Figuren des Stücks dagegen haben etwas kleinbürgerlich Faschistoides: Wahrscheinlich würden auch sie bei einer Presse-Befragung nach den Beweggründen ihres Handelns pegidamäßig aggressiv reagieren und jede Antwort verweigern. Sie sind die trüben Geister der Kleinstadt, verdruckste, oft verwachsene Gestalten mit eingezogenen oder ruckelnden Köpfen, verborgen in hoch über die Schultern wattierten braunen Anzügen und Kleidern, mit weißen Gesichtern, dunklen Augenhöhlen und starrer Mimik. Von fern erinnert Kriegenburgs Typenkabinett an die Kleinbürger-Karikaturen von Malern der Neuen Sachlichkeit wie Otto Dix oder George Grosz. Kostümbildnerin Katharina Kownatzki hat ganze Arbeit geleistet bei diesem gruseligen, auf ganzer Linie überzeugenden Ensemble, aus dem Felix von Manteuffel als windiger, so gutherziger wie feiger Präparator, Sascha Nathan als miesepetrige, zur Empathie nicht fähige Frau Prantl und Josefin Platt als bigotte und intellektuell blasse Frau Amtsgerichtsrat herausragen. Streiten kann man allenfalls über die Interpretation der Elisabeth: Lisa Stiegler gibt sie als laute, immer wieder heftig aufbegehrende Person - während Horváth ein schwaches, anpassungswilliges, sympathisches Mädchen in schüchternem Kampf um ein wenig Unabhängigkeit gezeichnet hat, schert sich Stiegler nicht die Bohne um Sympathiepunkte und schrillt immer wieder disharmonisch los. Das ist sicher zeitgemäß im 21. Jahrhundert, passt aber weder zu Horváths Text noch zu Kriegenburgs restlicher Inszenierung.
Dem Regisseur nämlich gelingt eine wundersame Gratwanderung: Horváths alles andere als psychologisch ausgefeiltem Typenkabinett begegnet er zunächst mit ausgesprochen stilisierten Figuren und Bildern. Zunächst scheint Kriegenburg kein psychologisches Drama, sondern eine Analyse mit den Mitteln von Brecht und der Atmosphäre von Kafka abliefern zu wollen. Je weiter der 100minütige Abend fortschreitet, desto mehr aber entwickelt er aus den anfangs so typenhaft wirkenden Gespenstern auf der Bühne reale Personen: Mehr als in anderen Inszenierungen wird deutlich, dass die Gegenspieler von Elisabeth nicht nur boshaft, dumm und gierig sind, sondern dass auch sie unter ungeheurem Druck stehen: Unter dem Druck der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Enge des Denkens ihrer Zeit. Frau Amtsgerichtsrat, die zuvor ihre Boshaftigkeiten mit der geliehenen Autorität ihres Mannes verspritzt hat, steht offenbar zu Hause in unerträglichem Maße unter dem Pantoffel; der Präparator ist in armseligen Karrieremechanismen gefangen - und mit dem Polizisten, der Elisabeth geliebt hat, empfinden wir geradezu Mitleid, als er perfide unter Druck gesetzt wird, seine Verlobte mit dem nicht ganz einwandfreien Führungszeugnis zu verlassen. Lukas Rüppels Polizist hatte zuvor auf den Punkt gebracht, was in dieser Gesellschaft los ist: „… die schießen wieder aufeinander. Also das ist ja schier zum Verrücktwerden, dieser latente Bürgerkrieg“, hatte er mit dem Ohr nach draußen gesagt. Horváth hatte das wohl als politischen Hinweis gemeint, und Kriegenburg hört auch in dieser Hinsicht genau auf den Text. Aber nicht nur im Makro-, auch im Mikroorganismus dieser Gesellschaft herrscht Krieg untereinander. Der Bürgerkrieg der Egoisten.