Übrigens …

Baal im Berliner Theatertreffen

Letztmals (?): Baal im Indochina-Krieg

Dass Frank Castorf im Schauspiel gerne höchst unterschiedliche Texte collagiert und dass dabei von der Spielvorlage des Autors oft nicht viel übrig bleibt, sollte dem Verlag ebenso bekannt gewesen sein, wie den Erben des „armen B. B.“, zugunsten derer der Blog des Theatertreffens ostentativ die allerletzte Karte der Berliner Aufführung versteigert hat um den Erlös anschließend ohne Abzüge den armen B.B.-Erben zukommen zu lassen.

Tatsächlich ist an reinen Texten aus Brechts diversen Fassungen des Baal in Castorfs Version wenig übrig geblieben, aber Aurel Manthei bietet auch im Vietnamkrieg eine in umkämpfter Natur, in Kneipen, Spielhöllen und Bordellen glaubhafte Verkörperung des Baal.

Aleksandar Deni?’ sich drehende Spielfläche mit Helikopter, Hängebrücke, Pagoden, Waterboarding-Keller und zahlreichen Propaganda-Plakaten, sowie zwei großen Screens für Live-Projektionen, gemahnt stark an die Bühnenlösung für die Bayreuther „Ring“-Inszenierung dieses Teams, auch in den Kostümen von Adriana Braga Peretzki.

Von Popmusik unterlegt und als fragwürdiges Melodram akustisch schwer verständlich, beginnt Castorfs Fassung mit der Ballade vom großen Baal. Bereits mit der ersten Szene und zunehmend im ersten Teil wird das schwule Verhältnis zwischen Baal und Ekhart fokussiert, mit Fickszenen und mit heißen, in Kameranahaufnahmen eingefangenen Küssen. Seine Bindung an den Mann, im Gegensatz zu den Baal reihenweise verfallenen und von ihm ganz bewusst in den Tod getriebenen Frauen, wird zum vorrangigen Beziehungsthema. Der junge Franz Pätzold verkörpert gleichzeitig die Partien von Johannes und Ekhart, in der Rolle von Andrea Wenzl sind die Handlungsträgerinnen Johanna und Sophie zusammengeflossen. Live- und zum Teil a cappella-Darbietungen der Arien der Cio-Cio-San aus Madama Butterfly und die der Lauretta aus Gianni Schicchi sind in die Szenenfolge integriert, durchaus jenseits der Situations-Parodie ernsthaft vorgetragen von Hong Mei. Dazu heißt es sibyllinisch: „Wer schätzt die Musik der Weisen, der muss begehren!“ Die asiatische Sopranistin und Katharina Pichler verkörpern im zweiten Teil jene zwei Schwestern, die Baal gemeinsam nachstellen.
Wie stets in Castorfs Produktionen des letzten Dezenniums ist Vieles nur auf den Screens zu sehen. Neu in der ständig von zwei Kameramännern für die Live-Mischung auf dem Screen begleiteten und von mobilen Tontechnikern mit Mikrofonen an Stangen akustisch übertragenen Projektionen ist das Mittel der Blue-Box: zweimal reiten die Protagonisten auf Surfboards übers Meer, dann schweben sie als Dreiergemeinschaft hoch über einer zur Urlaubsidylle gerinnenden Ansicht des Kampfgebietes oder fliegen mit ausgebreiteten Armen über die Sehenswürdigkeiten der Welt. Vor einer Spielfilmszene über einen in Vietnam um sein Gut kämpfenden französischen Unternehmer dialogisieren die Schauspieler, ebenfalls mit ins Bild gebeamt, die kurz darauf im Film zu hörenden Texte sequenzierend vorneweg.

Nach der Pause haben sich die Reihen der hart umworbenen Plätze in den Zuschauerreihen merklich gelichtet. Vorrangig sind nun die Szenen nur noch als Projektion zu erleben. Gogou (Frank Stössinger), schwer verletzt, aber an seiner offenen Beinwunde von einer Begleiterin lasziv geleckt, bettelt nur darum, den Kampf noch einen Monat weiterführen zu können. Brechts Anfangsszene, in welcher Baal beim Verleger Mech inmitten einer reichen Gesellschaft als Dichter-Talent gefeiert wird, liefert der zweite Teil des viereinhalbstündigen Abends nach. In einer vorproduzierten Traum-Sequenz wird Baal im Wald geboren. Später gebiert Sophie ein blutiges Baby, das dann auf dem Dach des Helikopters aufgehängt und zu Boden geschleudert wird.

Der Schlussakt greift aktuelle Entwicklungen auf. Ein Darsteller wirft einen Karton mit „weiteren Fremdtexten“ auf den Tisch; die als Advocatus Diaboli hinzu erfundene, von Bibiana Beglau exzessiv dargestellte Figur der „Höllengemahlin“ echauffiert sich über diese neue Regieidee, die sie als eine defizitäre Handlung des „Spielleiters“ deutet und argumentiert, „das ist der Grund, warum wir verboten wurden“. Später wird dann von drei Darstellern, die mit den Händen vor den eigenen Augen einen unsichtbaren Abgang exerzieren, Brechts „V-Effekt“ demonstriert. Als alkoholisierter Holzfäller hantiert Götz Argus mit einer Probebühnenwand. Scheinbar improvisierend schlägt er den Bogen von einem Messer zu Mackie Messer und dem Theater am Schiffbauerdamm, „da, wo jetzt unser Freund Claus residiert. [...] Er hat die Burg gesprengt. Und jetzt soll er in Rente. Und nicht nur er!“ Das zielt auf die Nachfolgediskussionen um die Intendanz Castorfs an der Volksbühne, wogegen Berliner Intendantenkollegen einen Offenen Brief an den Senat verfasst haben. Zuletzt kündigt Andrea Wenzl noch einen Song an, „der hat mit all dem hier nichts mehr zu tun“, aber dann setzt sie nach: „Jetzt hab ich’s vergessen“, und es folgt die fetzige Applausmusik-Einspielung.

Nach den Ovationen des Publikums für die Darsteller und für die Videotechniker, für Frank Castorf und sein Regieteam, wird vom Baal-Darsteller letztmals der obligate Spendenaufruf für Asylbewerber verlesen – aber in der Folge der 17 Premieren des Theaterfestivals sind die direkten Anschuldigungen gegen die Bundesregierung und gegen den Berliner Senat zwischenzeitlich auf der Strecke geblieben, aus dem Text verschwunden.