Übrigens …

Die 120 Tage von Sodom im Volksbühne Berlin

Blut und Darm

Herrgott, was hat sich der Held des linken Theaters da ausgedacht: Eine abscheuliche Ursuppe aus menschlichem Machtstreben, Fleischeslust, Gewalt, Degradierungen und allen möglichen Körperflüssigkeiten kocht Johann Kresnik an der Berliner Volksbühne in seinen 120 Tagen von Sodom zusammen. Die ultimative Moralkeule lässt ganze fünf Zuschauer verfrüht den Saal verlassen, doch am Schluss erntet die Premiere lediglich volksbühnen-durchschnittlichen Applaus. Die Erregungswellen bleiben aus.

Was zuvor geschah: Eine blutverschmierte Babypuppe wird mit einem Fleischerbeil zerteilt und auf den Grill gelegt, einer Tänzerin wurde sie aus dem zuckenden Leib gerissen, ein junger Mann verlässt in Reihe 12 und eine jüngere Dame in Reihe 15 die Volksbühne, die Gesichter scheinen zu sagen: „Wie kann man nur?"

Kresnik kann, und das schon lange. Richtig bekannt wurde der heute 75-Jährige 1980 mit dem Familiendialog, der in Heidelberg aufgeführt wurde - eine messerscharfe Abrechnung - psychisch verstörend - mit der Nazizeit, die für Kresnik (dessen Vater erschossen wurde als er drei Jahre alt war) mehr sein soll als eine abstrakte Geschichtsanalyse. Damit wurde er bekannt. Und die Frage ist, was in Zeiten, in denen etliche TV-Formate bewusst die Verletzlichkeit der menschlichen Psyche als Quotenstimulator nutzen - siehe „Dschungelcamp“, siehe „Biggest Loser“ - auf Theaterbühnen geboten werden muss, damit der Zuschauer, für den die Inszenierungen ja angeblich auf die Bühne gebracht werden, im Innersten berührt wird? Die Antwort ist: Mehr als es Kresnik mit dem bekannten Formenkanon heute tut, denn der ostentative Zeigefinger nervt, macht die 120 Tage von Sodom, die auf gut anderthalb Stunden zusammen gedampft sind, trotz Blow-Jobs, Kannibalismus, Pinkelekel und Darmentleerung zur Freakshow, weil die Träger der Macht, die Repräsentanten des Kapitalismus, die Agitatoren der modernen Demokratien zwar böse sind, weil sie Böses tun, aber in ihrer Überzeichnung das schale Gefühl hinterlassen, dass hier die Enttäuschung über das Nicht-Funktionieren der Moderne vor die tiefere Auseinandersetzung über die Gründe des Zustandes treten.

Die Konsumgesellschaft dient als Folie, vor der Kresnik seine Antihelden ihre Spiele treiben lässt; das grandiose Bühnenbild von Gottfried Helnwein ist bunt, knackig und präzise: Überdimensionierte Supermarktregale sind vollgestopft mit allem, wofür es sich aktuell angeblich lohnt aufzustehen. Die Show rockt zunächst, als die Jünger vor den Regalen den Fruchtbarkeitstanz in Form von Hip-Hop-Moves zu „Gangnam Style“ aufführen. Kresnik verlangt von seinen Tänzern viel: körperlich und emotional - das ist toll! Doch als die ersten Männer in Anzügen auftreten, kommt der Verdacht auf, man solle als Zeuge für die einzig wahre Wahrheit dienen, nämlich die, dass im Jetzt moralisches Fehlverhalten eins zu eins am Preis des Anzugs abzulesen sei. Die These ist so alt wie die RAF und wie alle einfachen Thesen ist sie natürlich verkürzt und damit in sich dumm, denn die Ackermänner dieser Welt gehen vielleicht in den Puff, aber sie geben dafür mehr Geld aus, als Che Guevara je für eine seiner Geliebten investiert hat; die Ackermänner dieser Welt verstehen, was ein Kondratjew-Zyklus ist, aber sie haben ihn nicht gemacht; sie stehen für eine Elite, die von einer anderen Elite kritisiert wird: Während die eine Elite das schwarze Waisenkind aus Afrika adoptiert und das Internat in der Schweiz bezahlt, möchte der Vertreter der anderen Elite den Sponsor des Schulgelds nach wie vor am liebsten an seiner Krawatte aufhängen. Das ist gaga, weil die Gegenutopie fehlt! Die könnte heißen: Wir sind alle scheiße, weil wir alle Teil des Spiels sind und weil die Hure genauso ihr Geld verdient wie der Banker: beide machen sie die Beine breit!

Folgerichtig, dass Kresnik den Helden am Ende ins Gesicht schießt: Die Maschinengewehre treffen Marx, Guevara, Luxemburg und Pasolini, der die 120 Tage von Sodom einst mit seinen Erfahrungen des Faschismus interpretierte. Die Vorlage von de Sade, selbst adelig, der die Dekadenz in seinem Text aus dem Innersten heraus erzählte, hat der Theatermacher Kresnik nun mit der Dekadenz des modernen Zynismus gespiegelt.

Kresnik scheint enttäuscht: vom Heute, vom Jetzt, von der Wirklichkeit - und ich bin es ebenfalls: Von der Stagnation der Gedanken im modernen Tanztheater!