Übrigens …

Primera carta de San Pablo a los Corintios im Berlin

Atheismus als gesteigerte Glaubensforderung

Trompetentöne wie Brunftschreie von Elefanten eröffnen den durch Johann Sebastian Bachs Kantate Christ lag in Todesbanden, BWV 4, musikalisch strukturierten Abend.

Eine Projektion rückt die Heilsgeschichte ins Heute: Jesus (Sindo Puche) wird von Polizisten gefesselt abgeführt. Im wallend rot ausgeschlagenen Bühnenraum, mit einem Kreuzpfahl, später durch weitere vier herabstürzende Pfähle ergänzt, vor einem von Goyas nackter Maja inspirierten Prospekt, wird der erste Korintherbrief nur gestisch gespielt. Eine rot gewandete Frau mit rotem Käppchen wirft Runen, die sie zu einem Kreuz formt und so den Gekreuzigten herbei zitiert: nackt, mit goldfarbener Ganzkörperschminke, führt er einen Handkoffer mit goldenem Messkelch mit sich. Das Tuch, mit dem er diesen im Messritus nach dem Trinken auswischt, lässt überlässt der Frau, die es dann wie eine Schweißtuch des Gekreuzigten bespielt.

Als ein „Hohelied der Liebe“ versteht das weibliche dramatische Ego seine Auseinandersetzung mit Glaubensfragen. Sie bekennt, bereits als vierjähriges Mädchen mit dem Kruzifix onaniert zu haben und Jesus zu lieben, obgleich sie aus einer atheistischen Familie kommt und selbst ungläubig ist. Der namenlose, unsichtbar verbleibende männliche Lebenspartner ist für sie nur der Stellvertreter von Jesus; dass der von Jesus wenig hält und vor ihren Stigmatisierungen an Händen und Füßen erschrickt, vermag sie so wenig zu versehen, wie dessen Weigerung, für sie zu Jesus zu beten. Ein Brief der „Königin des Kreuzweges an den großen Geliebten“ gipfelt im Bekenntnis ihrer Verlustängste. Die Darstellerin, in ihrem Textfluss so rasant, dass die deutsche Übertitelung kaum mithalten kann, katapultiert die Gedanken zu ausgesprochenen Attacken der Selbstanklage gegen die eigene Schlechtigkeit und einer Selbstbezichtigung als Böse. Basierend auf Gesten biblischer Gemälde tanzt die Liddell den Bachchor, spastisch verkrümmt und so exzessiv, wie es auch im Genre Tanztheater nur höchst selten zu erleben ist. Dann tritt eine sie verdoppelnde Figur (Borja López) auf, die dem Jesus durch eine Kanüle Blut abzapft. Die Hauptfigur lässt das im Katheder aufgefangene Blut auf ein Laken tropfen; die Herzform des Blutflecks gemahnt an den archaischen Brauch des Aufhängens des Brautlakens nach der Hochzeitsnacht als Beweis der vollzogenen Entjungferung. Der Zweitfrau aber stutzt Jesus die dunkle Lockenpracht. Zu Fischer-Dieskaus unverkennbar prägnanter Interpretation von BWV 4 treten fünf bereits kahl geschorene Nackte mit üppigen Formen auf, liebkosen die Holzpfähle und umtanzen Jesus. Unverständlich nur die Schlussapotheose, wo ein aufgehängter, ausgestopfter Fuchs herabgelassen wird – auch er ein Wesen im roten Gewand?

Die von der Comunidad de Madrid und Ministerio de Educación, Cultura y Deporte unterstützte Koproduktion mit dem Théâtre de Vidy, Lausanne, dem Odéon-Théâtre de l’Europe Festival d’Automne, Paris, dem 68° Ciclo di Spettacoli Classici al Teatro Olimpico di Vicenza, Comune di Vicenza – Fondazione Teatro Comunale Città di Vicenza, La Bâtie-Festival de Genève, dem Theater Chur, dem Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt und der Bonlieu Scène nationale Annecy erfolgte in spanischer Sprache mit deutschen Übertiteln.

Da die Seitenbühne des Festspielhauses nicht klimatisiert ist, hatte die Festspielleitung in der überhitzten Sommernacht vor Beginn der Aufführung Wasserflaschen an das auf einer Tribüne positionierte Publikum verteilen lassen. Nur wenige Zuschauer*innen des durchschnittlich jungen Publikums verließen die Aufführung. Die anderen jubelten der als Personalunion von Autorin, Regisseurin, Ausstatterin und Hauptdarstellerin großartigen Angélica Liddell und ihren sich – ganz gegen hiesige Theatergepflogenheiten – beim Applaus weiterhin nackten Mitstreiter*innen begeistert zu.