Der Teufel als Advocatus Diaboli des Publikums
Inhaltlich überfordert reagierte rund um mich das Publikum, sowie mit dem Kommentar „sehr gewagt“. Doch der Skandal blieb insbesondere deshalb aus, weil Stefan Herheim, einer Praxis von Claus Peymann als Direktor der Wiener Burgtheaters folgend, den Widerspruch gleich mit inszeniert hat. Ein Protestzwischenruf gegen dieses „schwule“ Theater, das „nichts mit Offenbach zu tun“ habe, erfolgt noch im ersten Akt, dem „Vorspiel auf dem Theater“ durch jenen Bassbariton, der die Bösewichte in dieser Handlung verkörpern wird. Da jenes Rollenpaket obendrein von Publikumsliebling Michael Volle dargestellt wird, geht die Rechnung auf: Advocatus Diaboli des Publikums ist der Teufel selbst.
„Versuchen Sie nicht, alles verstehen zu wollen“, hatte Mitbearbeiter Olaf A. Schmitt das Publikum bereits in seinem Einführungsvortrag gewarnt. Und tatsächlich muss man die Oper Offenbachs sehr gut kennen, um die umgestellten Musiken und neu verteilten Partien zuordnen zu können. Die rasante Folge von Bildeinfällen lässt dem Zuschauer keine Zeit zum Nachdenken über das hier post festum als „postmodernes Theaterstück“ (Schmitt) gedeutete szenische Konglomerat der Autoren Jules Barbier und Michel Carré in der Vertonung von Jaques Offenbach. Die Sängerdarsteller und der Prager Philharmonische Chor verkörpern die Verkehrung und Vermischung der Geschlechter so selbstverständlich und überzeugend, dass der Rausch der Szene überbordet. Alle Herren des Chores sind Hoffmanns Ebenbild und alle Chordamen entsprechen in ihrer Korsage den drei Geliebten Hoffmanns – Olympia, Antonia und Muse –, die sich gleichwertig in die Gesangslinien der Kurtisane teilen, Giulietta gemeinsam singen und spielen. Stella bleibt stumm, von einem Transvestiten dargestellt (Pär Karlsson). Gleich im Vorspiel treten alle Herren in Strapsen auf und zwischen den Schenkeln der Muse baumelt ein Penis. Welcher Sack mit „Klein-Zack“ gemeint ist, wird zwischen den Schenkeln der männlichen Stella deutlich ausgespielt. Ein nackter, geöffneter Schoß, gigantisch im Bilderrahmen projiziert und herangezoomt, wirbt für die Attraktion des Puppenmachers Spalanzani (Bengt-Ola Morgny): bei ihrer Gesangsdarbietung hat Olympia Sex dann mit dem in sie verliebten Hoffmann, indem sie ihn anal entjungfert. Die Gesellschaft bewegt sich puppenhaft, und Hoffmann wird gedoubelt mit einer lebensgroßen Kleiderpuppe. Später singt Hoffmann selbst in Korsage, schlüpft androgyn auch in die Rolle der Sängerin Antonia. Mit den Teilen der Hoffmann-Puppe singt Antonia im nächsten Akt, mit diesen Teilen spielt auch der schwerhörige Diener Frantz. Die drei skurrilen Buffotenorpartien verkörpert Christophe Mortagne hinreißend, durchwegs in der Maske von Jacques Offenbach. Da bei Spalanzani in Gegenwart von Andrès alias Offenbach mehrfach vom bankrotten Juden Offenbach gesungen wird, mag dies bei manchen Besuchern zusätzliche Irritationen ausgelöst haben. Im Venedig-Akt führt Offenbach mit seiner magischen Dirigier- und Bogen-Feder als Styx Hoffmann auf einer Trauergondel ins Jenseits, so dass Hoffmanns Stimme im Nachspiel zunächst nur als „La Voix de la Tombe“ aus dem Grab ertönt, wozu Stella synchron die Lippen bewegt. Der Herrenchor als vervielfachter Hoffmann lagert in Venedig ebenfalls neben Gondeln gleichenden Särgen, darin ihre Partnerinnen in den Einheitskorsagen.
Obgleich nicht von Hoffmann komponiert, singt Michael Volle die berühmte Spiegelarie - statt Spiegel oder Diamant mit einem glitzernden Paillettenkleid, in dem travestierend bereits selbst als Docteur Miracle aufgetreten war. Durch seinen Einfluss legen alle Damen solche Paillettenkleider an.
Wie leider so oft in Herheims Inszenierungen hat der Schlussakt nicht mehr die gleiche Dichte und Kraft wie die vorangegangenen Akte. Aber musikalisch kommen an dem vortrefflich gesungenen und von den Wiener Symphonikern differenziert ausgeloteten Abend noch besondere Höhepunkte, endend mit der spät aufgefundenen, als finaler Rundgesang mit Orgelpfeifen-Projektion dargebotenen Hymne.
Dirigent und Mitbearbeiter Johannes Debus leitet das sich wiederholt bis in den Zuschauerraum ausweitende Geschehen sicher, mit „Tristan“-Klängen im Antonia-Akt, mit selten so üppig ausgeführten Koloraturen wie denen von Kerstin Avemo als Olympia. Die weich-dramatsche Stringenz von Mandy Fredrich als Antonia und die Mezzo-Stimme der zwischen Nicklausse und der Muse changierenden Rachel Frenkel mischen sich mit dem Koloratursopran zu einem vordem nie erlebten stimmlichen Sexwunder der Giulietta. Der schwedische Tenor Daniel Johannson meistert die Titelpartie mit Leichtigkeit und vermag im Spiel zwischen Mann und Frau durchwegs zu fesseln. Michael Volle verkörpert die Bösewichte, wozu hier auch der Wirt Luther gehört, facettenreich und mit hintergründigem Witz.
Die Premiere musste im Vorspiel wegen einer Bühnenbild-Panne unterbrochen werden. Inzwischen aber läuft der Umgang mit Christof Hetzers Bühnenraum, einer sich immer wieder in unterschiedlich als Innenräume dekorierte Segmente öffnenden bühnenhohen Showtreppe auf der Drehscheibe reibungslos. Überspannt wird die Dekoration von einem fahrtbaren Plafond als Videoprojektionsfläche (fettFilm).
Die zunächst verblüffende Wahl für die Bregenzer Opernpremiere im Festspielhaus, wo in der Regel selten gespielte Werke vorgestellt werden, hat sich durch die besondere Form von Les Contes d’Hoffmann eingelöst. Im kommenden Sommer wird mit Franco Faccios Hamlet wieder eine Opernrarität auf dem Programm stehen.
Herheims sehenswerte Offenbach-Inszenierung sollte ursprünglich anschließend in Köln gezeigt werden, was nun aufgrund der Verspätung der Wiedereröffnung des Opernhauses nicht möglich sein wird. Wer es als Zuschauer nicht mehr nach Bregenz schafft, kann diese Produktion später in Kopenhagen erleben.