neutral – weiblich - männlich
Autowracks füllen in der Ausstattung von Johannes Leiacker die breite Bühne der Felsenreitschule, schwankend darauf gelagert eine heutige Wohnstube mit dem zentralen Bild von Frida Kahlo, Der verwundete Hirsch. Wenn die Zuschauer Platz nehmen, hat diese Oper bereits begonnen, drei Schlagzeuger auf drei Türmen neben und hinter den Besuchern erzeugen musikalisch eine „Landschaft, die ein Gewitter kommen spürt“ (Rihm). Suchscheinwerfer orten den Raum, doch entgegen der Regiebemerkung des Komponisten ist der Dirigent längst im Graben und das Natriumdampflicht erhellt weiterhin den Zuschauerraum für die wechselvollen Begegnungen von Cortez (Bo Skovhus) und Montezuma (Angela Denoke). Diese Szene nennt Rihm „Die Vorzeichen“. Sie hat sich mit Tequila auf das erste Date eingestimmt und Kaffee gekocht. Er hat einen Rosenstrauß mitgebracht, sie zeigt ihm ihr Fotoalbum, aber sein Ungeschick wird zur Randale. Zunächst wirft er ein Bücherregal um, dann fällt er kurz auf dem Sofa selbst über sie her. Bücher werden bewusst zu Boden geschleudert, dann kommen zwei schwarz gewandete Frauen (Susanna Andersson und Marie-Ange Todorovitch), die zuvor im Orchestergraben „A“, „Ä“ und „O“ gesungen haben, Montezuma zu Hilfe. Am Ende jeder Szene schließt der Komponist als sein eigener Librettist eine Strophe von Octavio Paz’ Gedicht Raíz del Hombre an. In der zweiten Szene, „Bekenntnis“, sind die Arkaden der Felsenreitschule rot erleuchtet. Cortez, den Montezuma in der ersten Szene aus ihrer Wohnung geworfen hatte, tritt aus ihrer Küche mit Schürze wieder auf, fesselt sie mit seiner Krawatte und lässt sie vor sich kriechen, verbindet ihr die Augen. Eine Horde von Männern in Anzügen kämpft sich schreiend durchs Publikum, betritt über die Kühlerhauben die Wohnstube und fällt über die beiden anderen Damen her. Cortez blutet aus der Nase und tonale Passagen der tiefen Streicher klingen arg heimtückisch. Der religiöse Vereinnahmung – Madonna versus Quetzalcoatl – wird bei Konwitschny auf ein rotes Sportcabrio reduziert, mit dem Cortez vorfährt. Anstelle der von Rihm vorgesehenen stummen Dolmetscherin Malinche, die tanzend zwischen den Kulturen vermitteln will, treten bei Konwitschny sechs auf dem Besetzungszettel namentlich genannte nackte junge Damen auf, die auf die Männer mit deren Schlipsen einschlagen, was diese masochistisch genießen. Mit den Mädchen fährt Cortez und seine Horde davon und Montezuma räumt das Chaos in ihrer Wohnung auf. Nach exakt einer Stunde erfolgt eine halbstündige Pause.
Danach ist sie schwanger und die beiden Helferinnen warten in der Szene „Die Umwälzungen“ auf ihre Niederkunft. Aber auch Cortez mit Emailleschüssel und mit zwei Begleitern (die Sprecher Stephan Rehm und Peter Pruchniewitz) wollen die Wehen beschleunigen: „Jetzt!“. Doch die Gebursthelferinnen ziehen nur eine Reihe von IPads und Macbooks aus ihrem Schoß. Der projizierte Computerbildschirm nimmt mit dem Kalenderdatum 21. April 1518 und der Temperaturangabe 24 Grad in Veracruz kurz Bezug auf die Historie, dann aber spielen die Handlungsträger, Männer und Frauen, heutige Computer-Kriegsspiele. Montezuma wird in ein weißes Hochzeitskleid gesteckt, sie aber setzt statt ihrer eine identische Brautpuppe (in Rihms Vorlage ist dies die Statue Montezumas) auf das Sofa und entschwindet. In „Die Abdankung“ ist der Imperialist alleine. Seine wiederholt vorgebrachten Räsonierungen zu „Neutral. Weiblich. Männlich.“ kulminieren in einem Traum, in welchem Cortez der Puppe Kopf und Gliedmaßen abreißt und anschließend mit ihrem Rumpf koitiert. Wie anfangs Montezuma leckt nun Cortez an der Zitrone, trinkt den Schnaps, betrachtet das Fotoalbum und singt „als Vorerinnerung“ (Rihm) die vierte Strophe des Paz-Gedichtes alleine. Erst für das Nachspiel eines utopischen Zwiegesangs von Montezuma und Cortez verdunkeln sich der Zuschauerraum und auch das Orchester. Im versöhnlichen, tonalen Duett a cappella sitzen sie gemeinsam auf dem Sofa unter dem erleuchteten Bild des verwundeten Hirsches mit Frauengesicht.
Ein knappes Vierteljahrhundert ist es her, seit die Sopranistin Angela Denoke den vom Komponisten weiblich besetzten Montezuma bei der Uraufführung in Ulm verkörpert hat. Mit viel Körper- und Stimmeinsatz trägt sie gemeinsam mit dem wendigen, breitbandig charakterisierungsstarken Bariton Bo Skovhus die Konzeption von Peter Konwitschny, der damit – als Einspringer für den ursprünglich angekündigten Luc Bondy – sein spätes Salzburger Festspiel-Debüt feiert.
Ingo Metzmacher ist für die perspektivenreiche Partitur zwischen Urschreien, Archaik, psychischen und rockigen Eruptionen, mit an die Stierhörner in der Götterdämmerung gemahnenden Bläserimpulsen („Der Krieg würgt!“) ein optimaler Sachwalter des Komponisten. Sicher leitet er die in Raum und Graben verteilten 48 Instrumentalisten des ORF Radio-Symphonieorchesters, die diversen Tonbereiche inklusive chorischer und orchestraler Zuspielungen mit Countdowon-Zählzeichen.
Das Publikum zeigte sich in der vierten Aufführung der Salzburger Produktion durchweg begeistert.