Dorsts "Merlin" mit Puppen
An die einhundertfünfzig Mal ist Tankred Dorsts Merlin oder Das wüste Land bisher weltweit inszeniert worden. Dabei galt das Weltendrama in 100 Szenen, in dem das Böse immer wieder über das Gute triumphiert, auch in der Einschätzung des Autors, mit einer Länge von mindestens 16 Spielstunden als unaufführbar. Dennoch ging die Uraufführung 1981 an zwei auf einander folgenden Abenden über die Bühne des Schauspielhauses Düsseldorf. Zusammenfassungen unter unterschiedlichsten Aspekten folgten - so auch jetzt in Graz in einer bisher einzigartigen, knapp vierstündigen Fassung für Schauspieler und Puppen. Iris Laufenberg lud zum Auftakt ihrer ersten Spielzeit als neue Schauspielintendantin ein Team ein, mit dem sie vor drei Jahren schon bei ihrem Einstand in Bern reüssiert war: Regisseur Jan-Christoph Gockel, zur Zeit Hausregisseur am Staatstheater Mainz, mit dem Schauspieler und Puppenbauer/-spieler Michael Pietsch sowie den Ausstatterinnen Julia Kurzweg (Bühne) und Sophie du Vinage (Kostüme). Kaum ein Beitrag zum Thema „Mythos“ ist theatralischer vorstellbar.
Einige wenige Hauptstränge der Artus-Ritter-Tafelrunde und des Parzival, die Dorst als Antipoden von gut und böse mit zahllosen Details und Verschränkungen, Protagonisten und Massen darstellt, hat das Team herausgegriffen. Nur acht Darsteller bewältigen die Vielzahl der Charaktere - und das mit überwältigender Wandlungsfähigkeit bei dennoch durchschaubarer Logik und Transparenz. Die Puppen vergegenwärtigen die Winzigkeit der Menschheit im Universum. Im Finale hockt die Puppe Merlin auf der gefallenen Weltesche und gesteht ihr Scheitern ein, die Menschen zu befreien entgegen dem Auftrag seines teuflischen Vaters, sie zum Bösen zu verführen. Der Untergang der Welt ist besiegelt. Merlin kehrt in den Wald zurück, aus dem er - wie der „reine Tor“ Parzival - kam.
Regisseur Gockel reduziert den gewaltigen Kosmos der Menschheit mit entwaffnendem Charme auf die deutschsprachigen Völker, indem er unvermittelt die Tischler der Tafel für die Ritterrunde ihre heimatlichen österreichischen und Schweizer Dialekte anschlagen lässt. Auch wird Parzivals Mutter urkomisch von Franz Solar gespielt und Parzifal grandios von der blutjungen, behenden Anfängerin Julia Gräfner. Am erstaunlichsten aber ist Michael Pietsch in der Titelrolle - ein veritabler „Spielmacher“ wie er Dorst vorschwebte. Tatsächlich macht sich der hoch gewachsene Deutsche als böser Zauberer, Sohn des Teufels und einer Göttin, zum Schöpfer und Vernichter menschlicher Existenzen, Gegenspieler und doch auch Alter Ego des Parzival, der nur das Göttliche, Gute in der Welt sucht.
In monatelanger Arbeit schnitzte Pietsch 25 Marionetten und Stabpuppen, teilweise mit verblüffend sprechenden Gesichtern - wie etwa das Kind Sir Garath und Merlin, die Augen und Lippen bewegen können. Merlin baute er einen beweglichen Körper aus ungeschälten Astringen, stattete ihn mit einem Klumpfuß und einem Huf aus und schnitzte ihm eine satanisch böse und eine fröhliche Kasperle-Gesichtshälfte. Viele der Details sind zwar nur in den ersten Parkettreihen auszumachen. Doch wie Pietsch und seine Kollegen die Puppen - bis zu einem Soldatenheer und der monströsen, lebensgroßen, Blut besudelten Soldatenbraut aus weißem Styropor - manipulieren und führen, das ist von staunenswerter Faszination. Als Merlin selbst changiert Pietsch mit nonchalanter Souveränität zwischen Konferencier, Kommentator, Schausteller und Mitspieler in vielen Rollen bis hin zum leidenden Amfortas - eine grandiose Leistung!
Gewaltig ist auch der Raum, in dem die angelsächsischen Ritter tafeln und Parzival als nichtsahnender Tor aus dem Wald hereinpurzelt, springt, rennt. Ein gigantischer Baum ragt in der Mitte bis in den Schnürboden, bevor sich der Stamm verzweigt. Wagners Weltesche... Im zweiten der vier Teile fällt der Koloss - Chaos breitet sich aus. Zum düsteren Wagner-Motiv dreht sich „das wüste Land“ und erinnert an Christoph Schlingensiefs Bayreuther Parsifal. Auch Shakespeares Sommernachts-Handwerker und manch' anderes Welttheater werden zitiert. Das macht diesen opulenten, überraschend kurzweilig unterhaltsamen Theaterabend zum großen Ereignis, dem das sehr aufgeschlossene steirische Publikum ostentativ begeistert und animiert folgte. Ein mutiger Auftakt, der durch die politischen Ereignisse der letzten Wochen frappierende Aktualität gewann. Gerührt verneigte sich der greise Autor (der seine künstlerische Laufbahn als Puppenspieler begann) bei der Premiere.