Nicht mehr allein mit ihrem Grame
Furchtbar banale Sätze sind es manchmal, die sich in das kollektive Gedächtnis einer Generation eingraben. Denn furchtbar banale Sätze haben manchmal furchtbare Konsequenzen. „Hier ist die Susanne“ ist solch ein Satz, der bei der Generation Ü60 noch heute ein Unwohlsein, wenn nicht gar Anflüge von Panik hervorruft. „Hier ist die Susanne“, hatte die RAF-Terroristin Susanne Albrecht durch die Sprechanlage gerufen, und prompt öffneten sich die Türen zur Villa von Jürgen Ponto, dem Vorstandssprecher der Dresdner Bank und Patenonkel ihrer Schwester. Blumen hatte Susanne in der Hand, und dann fielen die tödlichen Schüsse. Ihr Satz wurde zum Sinnbild für einen erschütternden Anschlag auf Vertrauen, Moral und Anstand innerhalb einer Familie oder zwischen engen Freunden.
Blumen liegen auch in der Mitte der Spielfläche der taT-Studiobühne des Theaters Gießen: ein Gebinde, wie man es zu einer Beerdigung mitbringt, wie es aber wohl auch demjenigen ähnelt, das die Terroristen als trojanisches Pferd missbrauchten. „Für die RAF war er das System, für mich war er der Vater“, hören wir Petra Soltau als Corinna Ponto sagen. Corinna Ponto – sie war die Tochter des Mordopfers, und auch sie war eine Patentochter, nämlich die von Susanne Albrechts Vater Hans-Christian. Zwanzig Jahre alt war sie, als sie Halbwaise wurde; Julia Albrecht, die Patentochter des Opfers, war damals 13 Jahre alt. Susanne, die den Mördern den Zugang zum Haus verschafft hatte, war ihre Lieblingsschwester: „Die Susi hat nicht geschossen!“, hat sie gerufen, als die Nachricht von der Mordtat im Hause Albrecht ankam. Wie skrupellos die jedoch den Lockvogel gespielt hat, welcher Gehirnwäsche sie aber auch von ihren Terror-Compañeros unterzogen worden war, konnte man später ihren Aussagen vor Gericht entnehmen.
Die Albrechts und die Pontos waren ziemlich beste Freunde vor dem 30. Juli 1977. Danach war das Band zwischen den Familien zerschnitten. Bei Albrechts hat jedes einzelne Familienmitglied den Fall individuell verarbeitet. Eine gemeinsame Trauerbewältigung scheint es nicht gegeben zu haben, wie der Film „Die Folgen der Tat“ nahelegt, den Julia Albrecht 38 Jahre nach der Tat gedreht hat und der in der Nacht der Gießener Patentöchter-Premiere im WDR-Fernsehen gezeigt wurde. Der Fall ihrer Schwester beschäftigte Julia ein Leben lang. Um einer Traumatisierung zu entgehen, befasste sie sich mit den Auswirkungen der Tat ihrer Schwester auf die Angehörigen – auf die Angehörigen der Mordbeteiligten ebenso wie auf die Angehörigen des Opfers. Dreißig Jahre nach dem Mord nahm sie Kontakt auf zu Corinna Ponto, der anderen Patentochter. Und siehe da: Langsam wuchs wieder Vertrauen. Gemeinsam schrieben sie ein Buch. Dessen Text, so heißt es zu recht auf dem Programmzettel des Theaters Gießen, ist „ein Ringen um Verständnis einer für beide unfassbaren Tat“ und „eine Reflexion über Schuld und Verantwortung“.
Die Überwindung der Distanz macht das Theater Gießen auch optisch deutlich. Soweit wie möglich voneinander entfernt sitzen die beiden Darstellerinnen auf der Spielfläche, fast in die Wand gedrückt ganz links Carolin Weber als Julia und ganz rechts, noch distanzierter wirkend als ihr Gegenüber, Petra Soltau als Corinna. Später werden sie gemeinsam an einem Tisch sitzen und die Köpfe über alten Familienbildern und -dokumenten zusammenstecken. Ansonsten bleibt die Interaktion zwischen den Darstellerinnen Mangelware bzw. ausgesprochen kontrolliert. Christian Lugerth hat den zwar sachlichen, aber emotional aufwühlenden Text unter weitgehender Vermeidung von Emotionen auf die Bühne gebracht. Fakten und Worte sollten für sich sprechen, betont der Dramaturg Gerd Muszynski. Lange Zeit über wird vorwiegend gelesen; zwischenzeitlich werden aus dem Off Zitate der Mutter eingespielt, aber mit den Stimmen der Schauspielerinnen, was zunächst etwas irritiert. Mit der extrem reduzierten Darstellungsweise scheint sich das Regie-Team nicht unbedingt einen Gefallen getan zu haben. Doch im Laufe des Abends wird die Atmosphäre dichter und konzentrierter.
Dazu tragen Fotos und kleine Filme aus der Zeit des Attentates bei, ein Original-Tagesschau-Text von Karl-Heinz Köpcke, ein Ausschnitt des Bekennerschreibens der RAF oder vom Besuch von Condoleezza Rice in Frankfurt, der ausgerechnet an dem Tag stattfindet, an dem sich Corinna und Julia erstmals begegnen. So findet die interfamiliäre Wiedervereinigung unter enormem Polizeieinsatz statt. Wir sehen Bilder von der Familie Ponto beim Trauergottesdienst – während die Familie in der Kirche ist, explodiert ein Sprengsatz im Garten ihres Hauses. Die Berichte von solchen zynischen Signalen der Terroristen packen den Zuschauer, der diese Nebenaspekte des Geschehens aus dem Jahre 1977 längst vergessen hat. Berührend ist es, die nicht abgeschickten Briefe zu sehen und zu hören, die Hans-Christian Albrecht an Susanne und - nach dessen Tod – an seinen ehemaligen Freund Jürgen Ponto geschrieben hat; berührend auch, wie Julia Albrecht nach nachvollziehbaren Motiven für die Beteiligung ihrer Schwester an weiteren Anschlägen sucht, erschreckend, wie sie leidet, weil Susanne sie während der langen Jahre ihres Untertauchens vollkommen vergessen hat.
All das entfacht Wirkung, obwohl es mit größtmöglicher Sachlichkeit erzählt wird. Möglicherweise hat sich das Leitungs-Team ein Beispiel an dem erwähnten ebenso sachlichen Film von Julia Albrecht genommen. Wie in Stein gemeißelt wirken manche Sätze, die die Schwierigkeiten der Angehörigen bei der Verarbeitung des Geschehens zusammenfassen: „Zu Hause gab es nicht mehr. Ich kehrte zurück an den Ort eines Verbrechens“, sagt Ponto. Oder: „„Ex-Terroristen“ sagt man heute. Ex-Opfer gibt es nicht.“ Julia Albrecht begegnet ihrer Schwester an jeder Straßenecke als Foto auf den Fahndungsplakaten: „Susanne war immer schon vor mir da.“ Im Bekanntenkreis, in der Schule und in viel zu großem Umfang wohl auch zu Hause wird sie allein gelassen mit ihrer Verlorenheit, ihren irrationalen Gefühlen von Mitschuld und Mitverantwortung. Sie muss lernen loszulassen – auch nach der Inhaftierung der Schwester, die große Distanz zur Familie wahrt. All das arbeitet die Aufführung überzeugend heraus. - Diffus bleibt (wie in der Realität), inwieweit sich Susanne Albrecht von ihrer Tat distanziert hat. Einer harten Abrechnung mit ihren Komplizen steht erkennbares Lavieren um das Eingeständnis der eigenen Verantwortung entgegen. Noch lange schmecken wir dem Satz nach, der auch die Überschrift eines der letzten Kapitel der Gießener Aufführung ist: „Das Ergebnis kritisiert uns“, heißt es in der Auflösungserklärung der RAF aus dem Jahre 1998. Distanzierung klingt anders.
Corinna Ponto ist Opernsängerin geworden. Kurz wird einmal die Arie der Marie aus Smetanas Die verkaufte Braut angespielt, die sie zum Zeitpunkt der Festnahme von Susanne Albrecht am Landestheater Dessau probte. „Endlich allein, …, allein mit meinem Grame ...“ Nachdem sie und Julia Albrecht aufeinander zugegangen sind, kann die Schmerzbewältigung wieder gemeinsam zwischen den Familien erfolgen. Geteilter Gram führt zur Versöhnung: Auch die Mutter von Julia und Susanne Albrecht und die Witwe von Jürgen Ponto haben seitdem wieder einen zaghaften Kontakt.