Der Besuch der alten Dame im Schauspielhaus Zürich

Der Triumph des Geldes über die Moral

Im „Pfauen“, Zürichs Schauspielhaus, begann vor fast 60 Jahren sein Aufstieg in den Theater-Olymp. Es war Der Besuch der alten Dame, der den Schweizer endgültig international bekannt machte. Nach der Uraufführung am 29. Januar 1956 wurde Friedrich Dürrenmatt zu einem der weltweit meistgespielten Autoren der Moderne. Drei Tage vor dem 25. Todestag des Dichters am 14. Dezember kam seine Dame, die Multimilliardärin Claire Zachanassian, nun am selben Ort, im Zürcher „Pfauen“, zu frischen Premieren-Ehren.

Viktor Bodó, gerade mal 37 Jahre alt, Nestroy-Theaterpreisträger 2008 und nicht erst seit seiner zum Berliner Theatertreffen 2010 eingeladenen Grazer Inszenierung des wortlosen Peter Handke-Stücks Die Stunde da wir nichts voneinander wussten im deutschen Sprachraum weithin bekannt, machte sich ans Dürrenmatt-Werk. Ein Schelm, wer dabei nicht an recht aktuelle Themen denkt. Schließlich ist das Stück zwar eine „Komödie“, aber eine sehr „bittere“ – wie Dürrenmatt sie selbst charakterisierte. Schließlich will die einst aus ihrer Heimat bettelarm vertriebene „Dame“ ihr Dorf, das einst sehr wohlhabende, nun aber völlig verarmte und hoch verschuldete Güllen, aus dem Schlamassel befreien. Der mehr als makabre Haken: Sie stellt eine Schenkung von einer Milliarde in Aussicht, wenn Güllens Bürger den Mann töten, der sie einst, als junge Frau, verleugnet und mit einem Kind hat sitzen lassen. Nun kehrt sie, dank sieben Ehen steinreich geworden, zurück und will „Gerechtigkeit“.

Der ungarische Regisseur Viktor Bodó, „sehr kafka-affin“ und „in einer Art Verwandtschaft“ mit dem bekennenden Kafka-Fan Dürrenmatt, lässt beider Kafka-Einfluss jederzeit erkennen. Vor allem aber fügt er, um möglichen Staub von der Dame zu blasen, der Komödie eine gehörige Portion Pfeffer hinzu. Bereits das erste Bild ragt in spießige Untiefen, lässt ahnen, dass die Vier, die da eng zusammengekauert, mit laut knurrenden Mägen und miesen Sprüchen auf ausgedörrten Lippen auf dem Bahnhof vom Güllen ihre Rettung erwarten, zu allem bereit sind, ihr Kaff und vor allem sich selbst zu retten: Der Pfarrer klopft Sprüche, der Lehrer faselt von Humanität, der Polizist kotzt die Worte geradezu heraus. Grandios, wie Bodós Regie gleich zu Beginn in die Mitte des Stücks zu springen vermag. Da sind Menschen, denen man alles zutraut, wenn`s ihnen dreckig geht. Und so kommt, was kommen muss: Sie opfern, kaschiert von Scheinmoral und Schuldzuweisungen, einen der Ihren, um selbst zu überleben.

Eine Lok rast aus der Tiefe der Bühne auf uns zu, überfällt uns mit Lärm, Rauch und Blitzlicht. Die „Dame“ hat die Notbremse gezogen. Sie darf`s, denn sie hat den Zaster, auf den alle hoffen. Recht bald kommt Alfred III, das Opferlamm, ins makabre Spiel. Eine erste Annäherung lässt die alte Liebe wieder aufleuchten. Es ist eine Szene, in der Zärtlichkeit, die sich der einstigen Jugendliebe erinnert, und die Gier nach Rache eine kaum zu überbietende ironische Einheit eingehen. Dabei weiß schon jetzt jeder, Alfred sowieso, dass er sterben wird.

Imaginäre Blitze verunsichern die Menschen, Donner grollt - es wird immer finsterer. Bis zur grandios ausgespielten Szene, in der der Volkswille in Gestalt des Gemeinderates erreicht, was die Alte Dame, die Rächerin, will. Jeder hat das Wort. Und während das Mikrophon von einem zum anderen wandert, legt sich dessen Kabel zunehmend enger um den Hals des Delinquenten - und erwürgt ihn schließlich. Schuldig? Schuldig ist keiner. Gemordet haben alle, gemordet hat die direkte Demokratie. Allein der Lehrer ist sich bewusst, was mit ihm geschieht: „Ich fühle, wie ich zum Mörder werde.“

Bodós Inszenierung schreckt weder vor der Farce noch vor Klamauk-Passagen zurück, setzt freilich ebenso zarte wie ruhige Phasen dagegen. Das Fallbeil der Korrumpierbarkeit lässt er freilich gnadenlos niedersausen. Da kennt der Spaß keine Gnade. Ein grandioser Abend. Reif fürs Berliner Theatertreffen. Selbst das sonst recht zurückhaltende Zürcher Publikum zeigte sich begeistert.