Zuschauer unterwegs
Eine Truppe Düsseldorfer Theaterfreunde macht sich auf, den designierten Theaterchef Wilfried Schulz und sein Theater in Dresden zu besuchen. Auf dem Programm steht: Der Zuschauer, eine Auftragsarbeit von Martin Heckmanns, die bereits 25 mal gespielt wurde, aber dennoch auch für diesen Abend schon lange ausverkauft ist.
Nach einer humorigen Einführung durch den Hausherrn öffnen sich die Türen zum Saal: tosender Lärm empfängt uns, Theaterblitze zucken, Donner dröhnt, und vor uns liegt der Zuschauerraum: ist dies das neobarocke Staatsschauspielhaus? Provisorien sind uns vertraut aus Düsseldorf, Köln und auch von manchen Spielorten der Ruhrtriennale - in Dresden aber erwarteten wir Polstersessel und Golddekor an geschwungenen Rängen. Stattdessen dunkle Balken, herabhängende Scheinwerfer, massige Bühnentechnik, in seitlichen Kojen werkelnde Bühnenarbeiter, und schließlich dürftige Klappstühlchen. Nur ein strahlender Sternenhimmel über uns (der, wie wir erfahren werden, eigentlich zur Hamlet-Inszenierung gehört), und der schwere rote Samtvorhang vor uns erinnern an ein Staatsschauspiel. Um uns herum füllen sich die Reihen mit jungen Leuten - gefühlt sind wir die einzigen über vierzig im Raum – ich frage nach: eine Jahrgangstufe 11 mit Lehrerin, ein Deutsch-Leistungskurs (ohne Lehrer, aber auf dessen Empfehlung), Freundescliquen. Die ca. 300 Plätze füllen sich, Lärm und Licht werden gedämpft, der Vorhang geht auf: da liegt er vor uns, der erwartete schmucke Theatersaal, Theaternebel wabert auf, im Halbdunkel kreisen Lichter, wohl Taschenlampen, wir sind geblendet und können die Schauspieler (Albrecht Goette, Ben Daniel Jönk, Hannelore Koch, Kilian Land, Anna-Katharina Muck, Ines Marie Westernströer) dahinter nur schemenhaft erahnen. In der Mitte des ersten Ranges erkennen wir eine wild aufspielende Band - die Woods Of Birnam – mit ihrem Bandleader Christian Friedel, der sich dann später als Sänger, Moderator, Schauspieler (mal Kleiner Junge, mal Bettler, mal blinde Oma) als wahres Multitalent präsentieren wird. Es wird heller im Saal und wir entdecken zwischen den Sitzreihen verteilt sechs skurril kostümierte Schauspieler/innen, die in schnellem Rollen- und Perspektivwechsel die ganze Bandbreite der Zuschauer-Klientel (über zwanzig verschiedene Figuren) durchspielen werden, während wir, die „echten“ Zuschauer, ihnen amüsiert, irritiert oder auch mit dem einen oder anderen Wiedererkennungs-Moment von der Bühne aus zuschauen werden. Die Gestalten werden deutlicher, werfen riesige Schatten an die Wände, steigen über die Sessellehnen, brüllen Buh und Bravo, lachen, verschwinden schlafend, schnarchend oder hustend zwischen den Reihen und tauchen wieder auf in bizarrer Kostümierung als Eisbär, Mickymaus oder auch als blut- und teerverschmierte Phantasie–Engelfigur, die poetisch und grotesk zugleich umherirrt (vielleicht Zitate aus anderen Dresdner Aufführungen?). Die Bilder fügen sich zusammen zur Vermutung: hier ist eine Theateraufführung soeben beendet worden, die Bühnengeister ziehen sich zurück und die Zuschauer – noch ganz im Eindruck der Zauberwelt – teilen sich in rasch wechselnden Szenen ihre Gefühle, Eindrücke und Erschütterungen mit. Einzelne Figuren schälen sich heraus: ein kleiner Junge, der einen Fuchs bewundert, den sonst niemand sah (eine Glücksmetapher, die wiederkehren wird); eine Frau, die ihren Träumen nachhängen will; ein uraltes Paar, einer fast taub, der andere fast blind, hilft sich liebevoll, etwas zu verstehen, doch dann - einige Szenen später - wird die Idylle entzaubert: irgendetwas stimmte da nicht. Szenenwechsel: Ein ganz junges Pärchen taucht wiederholt auf, beide zum ersten Mal im Theater (er wollte mit der Einladung renommieren), nun hoffen sie auf eine Liebe so strahlend, bedingungslos wie auf der Bühne (sahen sie am Ende Romeo und Julia?), und werden enttäuscht. „Ich hatte das Gefühl, ich küsse eine Suchmaschine“.
Und dann erleben wir Andeutungen von Katharsis: da es auf der Bühne so gesagt wurde, lädt ein Paar einen Bettler nach Hause ein, sie wollen es besser und richtig machen: er wird sie ausrauben. Der Junge mit dem Fuchs, den keiner außer ihm sah, darf seinen Vater mitbringen zur getrennt lebenden Mutter. Auf der Bühne ein Hoffnungsschimmer. Im leider gestrichenen Text wird er vom Nachfolger, vom Mann seiner Frau, aus der Wohnung gejagt. Es scheint nicht zu klappen mit der Katharsis, mit der Übertragung ins wirkliche Leben. Es bleibt beim Gefühl:
SCHWÄRMER
Und wie ich hinaustrat
Aus dem hellen Geisterhaus……
Brannte mein Wunsch
Als Mitmensch zu leben
Spieler unter Spielern…
Martin Heckmanns fragt in seinem Stück Die Zuschauer nach dem, was im Theater passiert, was mit den Menschen passiert zwischen Bühne und Zuschauerraum. Um das sinnfällig zu machen, lässt der Regisseur Roger Vontobel uns ganz einfach die Perspektive wechseln und lässt uns von der Bühne aus auf Unseresgleichen blicken: auf fiktive Zuschauer im Saal. Und so bietet er uns ein buntes Kaleidoskop interessanter und witziger Beobachtungen, phantasievoller aber auch kitschiger Bilder, ein Potpourri vager Andeutungen und angespielter Szenen - dabei völlig unnötig auch ganz billige Lacher über Huster, Nackte oder allzu lange Stücke. Alles in allem hätte es allerdings eher eine Publikumsbeschimpfung als ein Analyse der Zuschauer werden können (wenn sie uns auch auf die Bühne gesetzt haben), wenn da nicht…
Ja wenn da nicht diese tolle Band „Woods Of Birnam“ wäre, die das Ganze zu einer intelligenten, atmosphärisch dichten Kollage zusammenbindet. Mögen auch die Shakespeareschen Liedertexte - etwa das Lied „The Greenwood Tree“ aus „Wie es euch gefällt“ - inhaltlich kaum dem Stückthema zuzuordnen sein, so reiht sich die Musik mit ihren höchst unterschiedlichen Akzenten dennoch sinnvoll ein in den bunten Reigen der Bilder und gibt dem Stück letztlich eine emotionale Klammer.
In der Schlussszene dreht die Band noch einmal voll auf, während das auf uns herabrieselnde Konfetti im irrlichternden Scheinwerfer gold glitzert, dann aber auf unseren Haaren doch nur blau-weiß-rot liegen bleibt.
Nach ihren Eindrücken befragt, meinten die jungen, wirklichen Zuschauer: die Musik war toll, über den Text wolle man noch nachdenken.