Poetischer Untergang
Es ist die letzte Premiere der Intendanz Wilfried Schulz in Dresden. Etwas wie Wehmut ist im Haus zu spüren. „Sie bekommen den Besten“, ruft Werner Mankel, Präsident des Fördervereins des Staatsschauspiels Dresden, den mehr als 40 Gästen vom Freundeskreis des Düsseldorfer Schauspielhauses zu: „Aber er ist nicht immer bequem.“ Schulz wird im Sommer 2016 Generalintendant des Düsseldorfer Schauspielhauses – kein leichter Job in einer Zeit, in der das Schauspiel an Bedeutung in der Stadt verloren hat, in der das als schwierig geltende Düsseldorfer Publikum auf Distanz zu seinem Haus gegangen ist und in der das elegante Gebäude des Architekten Bernhard Pfau am Gustaf-Gründgens-Platz auf unabsehbare Zeit unbespielbar sein wird. Einen bequemen Intendanten könnte Düsseldorf auch nicht gebrauchen…
Er wolle seine Dresdner Zeit nicht mit einem Knalleffekt beenden, sondern mit einem sanften Adieu, sagt Wilfried Schulz sinngemäß bei der Premieren-Einführung. Deshalb habe er die Abschluss-Inszenierung Jan Gehler übertragen, seinem leisesten, zärtlichsten Regisseur. Dennoch wurde ein Stück ausgewählt, das zu einem der Schwerpunkt-Themen des Staatsschauspiels Dresden in den letzten Jahren passen könnte: dem Kampf gegen die Ausländerfeindlichkeit von Pegida. Das Deutsche Schauspielhaus Hamburg ist mit Karin Beiers Fassung von Fellinis Schiff der Träume gerade zum Berliner Theatertreffen eingeladen worden: Beier hat aus Fellinis 33 Jahre altem Film brandaktuelles politisches Theater gemacht. Jan Gehler bleibt in Dresden enger auf Fellinis Spuren. Aber der Film aus dem Jahre 1983 (und dessen Plot aus dem Jahre 1914) wirkt gegen Ende ohnehin wie ein Kommentar zur Lage Europas im Winter 2015/16. Zuvor ist er ein Traumspiel – und ein poetisches Künstler-Drama. Jan Gehler bringt es fertig, sogar die Flüchtlinge poetisch untergehen zu lassen. Die – im Jahre 1914 handelt es sich nicht um Syrer oder Afghanen, sondern um serbische Aufständische - entern nämlich schließlich das Schiff.
Die „Gloria N.“, mit der unsere Helden in See stechen, ist ein Totenschiff. An Bord – und mitten auf der Dresdner Bühne – befindet sich die Urne mit der Asche von Edmea Tetua, der größten Opern-Diva aller Zeiten. Vor der Insel Erimo, auf der Edmea einst geboren wurde, soll die Asche im Meer verstreut werden. Die „Gloria N.“ ist auch ein Narrenschiff. Denn an Bord befindet sich eine durchgeknallte Gesellschaft von Sängern, Schauspielern und Musikern, von privilegierten Sonderlingen, die längst den Bezug zur realen Welt verloren haben und sich skurrilen solipsistischen Zeremonien hingeben. Die „Gloria N.“ ist auch ein Traumschiff, das, wie die Dramaturgin Beret Evensen schreibt, „zu keinem Zeitpunkt… den Gesetzen der Rationalität unterworfen“ ist und auf dem „die Grenzen zum Surrealen fließend“ sind. Zu guter Letzt ist die „Gloria N.“ ein Abbild der dekadenten Gesellschaft unmittelbar vor Ausbruch des 1. Weltkriegs. (Zeitlich ist das surreale Geschehen klar verortet: Der Film spielt zwischen dem Tag des Attentates auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 und den ersten Tagen nach dem Kriegsausbruch.) Nie wieder wird das Toten- und Traumschiff einen Hafen erreichen. Ein Kriegsschiff wird es versenken; die meisten Passagiere werden das Unglück überleben. Es ist wie an Bord der Titanic. Dort spielte die Kapelle bis zum bitteren Ende, und manch dekadenter, aber stilvoller Passagier der Ersten Klasse ging auf schwankendem Boden in den Musiksaal: „Guten Abend, wir sinken. Darf ich mich setzen?“
Die Dresdner Aufführung währt etwas mehr als 90 Minuten. Mehr als eine Stunde zelebriert Jan Gehler mit seinen Schauspielern mit immer neuen Bilderfindungen die Dekadenz und die Traumwelt. Ein Künstler, so hat Fellini einmal gesagt, sei „ein Provinzler, der sich zwischen einer physischen und einer metaphysischen Wirklichkeit befindet“, auf der „Grenze zwischen der Welt des Wahrnehmbaren und der Welt des Übersinnlichen.“ Und so gerät Gehlers Inszenierung – wie schon Roger Vontobels den Düsseldorfer Gästen am Abend zuvor gezeigte, noch stärkere Inszenierung von Martin Heckmanns‘ Die Zuschauer (siehe hier) – zu einer romantischen Liebeserklärung an das Theater. Nicht auf Realismus und logische Nachvollziehbarkeit zielt die Inszenierung ab, sondern auf Poesie: auf eine bildmächtige Theatersprache mit nachtwandlerischen Traumbildern. Die warmen Lichtkaskaden Jürgen Borsdorfs und die wehmütige Sehnsüchte nach den Luxus-Reisen der Upper Class des frühen 20. Jahrhunderts weckenden Kostüme von Irène Favre de Lucascaz schmeicheln dem Auge, die einfühlsame, manchmal auch ironische Musik von Sven Kaiser gefällt dem Ohr. Der zauberhafte Soundtrack reicht von italienischen Canzoni über Salonmusik vom Piano, meist live performt vom Schiffskapitän und musikalischen Leiter, bis hin zu wunderbar gesungenen Verdi- und Händel-Arien. Fellinis unvergessliches Gläser-Orchester, das Schuberts Moment Musical f-Moll spielt, wird durch ein Bierflaschen-Ensemble persifliert, das panflötenartige Geräusche erzeugt. Am Belcanto noch feilen muss André Kaczmarczyk als Sopranistin Ildebranda Cuffari: Die arme Ildebranda versucht so verzweifelt wie vergeblich hinter das Geheimnis der Stimme der toten Edmea zu kommen, deren Nachfolge sie antreten möchte. Ein schöner Falsett-Gesang gelingt ihr dennoch: Kaczmarczyk entwickelt in seiner Frauenrolle das größte Charisma der neun Schauspieler. Großartig auch Kilian Land als Stummfilmkomiker Ricotin, der vergeblich um Anerkennung ringt, aber gleichzeitig die meiste Magie entfacht – voller Sehnsucht die Szene, in der er mitten in der Nacht mit einem Sonnenschirm einsam auf dem Oberdeck des Schiffes steht, vor einem warmen nachtblauen Himmel mit einem eiskalten Mond. Und mit einsamer Tragik, aber auch umwerfender Komik gibt er, der doch „ein ernsthafter Schauspieler“ sein möchte, später Fellinis durch die Musik in Trance versetztes Huhn …
Einsam und sehnsuchtsvoll sind die Figuren, wenn sie auf dem Oberdeck stehen und in die Ferne schauen – einsam und egoistisch, wenn sie sich auf der Party- oder Gesellschaftsebene in der Mitte des Schiffes bewegen. Denn ein jeder dieser weltfremden Künstler denkt nur an sich. Gehler aber hat eine Ensemble-Leistung im Sinn, einen Theaterabend, der sich aller Mittel bedient, die die Darstellende Kunst zur Verfügung hat: Tanz und Choreografie, Pantomime, Clownerie und Harlekinade, Musik und Schauspiel. Nicht durch die Sprache, sondern nur durch das Zusammenspiel der einzelnen Theatermittel wird der Abend verständlich – nicht alle Zuschauer waren auf diese Anforderung vorbereitet. Allerdings erreicht Gehler auch lange Zeit über nicht den Standard, den das Dresdner Schauspiel mit seiner Liebeserklärung an Theater und Zuschauer am Vorabend vorgegeben hat.
Doch dann kommen die serbischen Flüchtlinge auf die Bühne, dargestellt von elf Kindern im Alter von neun oder zehn Jahren. Kinder, die erwachsene Flüchtlinge darstellen – das polarisierte das Publikum. Ist das Kitsch? Ist das eine unzulässige Verniedlichung eines der drängendsten und tragischsten Themen unserer Zeit? Weder noch: Die Besetzung durch unschuldige Kinder ist eine Metapher für die Hilflosigkeit und die Schutzbedürftigkeit der Menschen, die uns auf dem Mittelmeer oder der Adria entgegentreiben. Mit ihnen gewinnt die Aufführung an Relevanz und an Aktualität. Pegida-Argumente und Willkommenskultur prallen aufeinander. Während der Kapitän von der „vornehmen Pflicht…, diese unglücklichen Menschen an Bord zu nehmen“, spricht, wehren sich die Passagiere gegen die Einschränkung ihres Komforts durch „Zigeunerstämme, die von der Polizei gesucht werden.“ - „Unter denen, die Sie freundlicherweise als Flüchtlinge bezeichnen, verstecken sich auch professionelle Mörder“, polemisiert die Mezzosopranistin Saltini. Das kennen wir doch?
Jan Gehler beweist nun endgültig, wie recht Wilfried Schulz hatte, als er ihn als seinen „zärtlichsten“ Regisseur bezeichnete. Ildebranda ist es, die als erste ein Kind auf den Arm nimmt und es zärtlich umklammert. Bald nehmen sich auch die übrigen Schauspieler der Schutzflehenden an. Die Flüchtlinge, die zunächst auf dem Unterdeck, der Ebene für Köche und Arbeiter, ihren Platz gefunden hatten, steigen die Treppe hoch auf die Gesellschaftsebene des Schiffes. Ein Happyend bahnt sich an, doch wir wissen: Das darf nicht sein. Die „Gloria N.“ wird untergehen, versenkt von einem österreichischen Kriegsschiff. Zuvor wird Edmeas Asche verstreut. Ein Geistlicher singt ein Requiem Aeternam. Nicht das Christentum siegt über den Islam, wie Pegida es will, sondern die christliche Moral, die Botschaft von Gnade und Barmherzigkeit wird gepredigt, die Botschaft von Nächstenliebe, von Hilfe für die Mühseligen und Beladenen. Der Musiker hämmert die „Ode an die Freude“ ins Klavier. Es ist der Choral am Ende der Reise; die Gesellschaft singt ein Kyrie Eleison zu Beethovens Melodie. Dresden könnte den Untergang von Pegida feiern. Doch untergehen werden die Flüchtlinge – vielleicht. Sie bekommen Schwimmwesten und werden ausgeliefert. Die Österreicher ziehen ihr Kriegsschiff nicht ab. Die feine Gesellschaft kommt mit geringen Verlusten davon. Wen interessieren da schon die Flüchtlinge?