Der Mensch im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit
„Der Mensch ist keine fehlerhafte Technologie, sondern eine bedürftige Kreatur, ausgeliefert dem Bewusstsein seiner Vergänglichkeit... armselig und zerbrechlich.“ So resümiert Johannes Gutenberg in Volker David Kirchners gleichnamiger Oper die Quintessenz seines Lebens. Das tut er in einem „Dialog im Himmel“ mit Steve Jobs, nachdem er vorher festgestellt hat, dass Menschen jeden Fortschritt missbrauchen. Klüger wird der Mensch nie. Das Theater Erfurt bringt Kirchners Oper zur Uraufführung. Die Frage „Wer ist Gutenberg?“ - jener Mensch, der mit dem Buchdruck die Welt revolutionierte – will Kirchner mit seinem Werk nicht beantworten. Gutenberg ist ein Werk, das Erkenntnisse transportieren will. Was macht technischer Fortschritt mit dem Menschen; ist er für Menschen beherrschbar? Diese Frage treibt Kirchner offensichtlich schon lange um, denn bereits in seiner 2001 in Bielefeld uraufgeführten Oper Ahasver taucht Gutenberg als Figur auf.
Über den Menschen Gutenberg, über seinen Lebens- und Leidensweg hin zur finalen Conclusio erfahren wir dabei in den neun sehr kurzen Szenen nur sehr wenig. Das liegt sicher in Kirchners Absicht – ein wenig von den Qualen, die den Erfinder des Buchdrucks bewegen liegt im Stoßgebet, das er zur Mutter Gottes im Mainzer Dom spricht.
Kirchners Musik ist unaufgeregt. Der Komponist fußt deutlich auf romantischer Tradition, bisweilen schimmert auch ein wenig Arvo Pärt hindurch. Vorrang hat eindeutig das Libretto, das Kirchner musikalisch untermalt.
Regisseurin Martina Veh schafft den notwendigen Sprung vom 15. zum 21. Jahrhundert – von Gutenberg zum Apple-Gründer Steve Jobs: Die Videokünstler von fettFilm, Torge Müller und Momme Hinrichs „zaubern“ die Darsteller, die in heutigen Kostümen auf der Bühne agieren, immer wieder punktgenau in Bilder hinein, die den Darstellungen der frühen Neuzeit entsprechen. Das ist der zentrale Clou und mehr braucht es eigentlich auch gar nicht, da bei Kirchners Konzept Interaktion nicht stattfindet. Gesprächspartner sind letztendlich im wesentlichen unverzichtbare Stichwortgeber, damit Gutenberg seine gewichtigen Sätze anbringen kann.
Das Erfurter Ensemble meistert seine Rollen gut, wenn mitunter auch eine bessere Schulung des deutschen Idioms gut getan hätte. Das gilt besonders für Siyabulela Ntlale in der Titelrolle. Sein wunderschön runder Bariton konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass nie klar war, ob er die Worte auch verstand, die er sang. Einen Zeugnis ablegenden Gutenberg stellt man sich anders vor. Ein Rätsel bleibt auch, warum die von Kirchner sicher bewusst dialektgefärbten Passagen des Librettos hochdeutsch gesungen wurden.
Vorausgegangen war Gutenberg ein von Martina Veh konzipierter erster Teil mit dem Titel Digitale Revolution. Hier wollte sie Grundfragen der menschlichen Existenz im Zeitalter des alles beherrschenden Internet aufwerfen. Gezeigt werden indes Auswüchse der digitalen „Wunderwelt“ wie Selfiewahn und orgiastische Schuhbestellungen bei Zalando. Fragen nach Veränderung menschlicher Existenz? Keine Spur! Und was die gezeigten Bilder mit Chören und Arien aus Bachs Johannespassion und der h-Moll-Messe zu tun haben, bleibt ebenso schleierhaft. Dieses „Präludium“ zu Kirchners Gutenberg ist absolut überflüssig. Das mögen auch die Gesangssolisten, der Opernchor und das Philharmonische Orchester unter Samuel Bächli gedacht haben, denn Mühe oder Sorgfalt im Umgang mit Bachs ergreifender Musik waren nicht zu erkennen.
Der Abend hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Kirchners Gutenberg ist durchaus sehens- und hörenswert. Über den ersten Teil breitet man am besten den Mantel des Schweigens aus.