Der Dudelsackpfeifer als Pfeife-Raucher
Als Komponist war Hans Sommer ein Spätberufener. Die naturwissenschaftliche Karriere von Hans August Friedrich Zincken, so der bürgerliche Name des Stiefsohns von Wilhelm Friedrich Voigtländer, gipfelte in den naturwissenschaftlichen Positionen als Professor und Direktor am Polytechnikum in seiner Heimatstadt Braunschweig. Als Komponist wirkte der Schüler von Adolf Bernhard Marx und Franz Liszt zunächst unter dem Pseudonym E. T. Neckritz. Als Hans Sommer schrieb er zehn Opern und war insbesondere mit seinen Liedern seit den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts in deutschen Konzertsälen stark vertreten.
Sommer war aber auch eine Gründer-Natur. Er gründete den Braunschweiger Patronats-Verein zugunsten der Bayreuther Festspiele und empfing Richard Wagner und dessen Frau Cosima, mit der er auch nach dem Tod des Bayreuther Meisters weiter in Kontakt stand, persönlich. Und zusammen mit Richard Strauss gründete Sommer die AFMA, Vorläufergesellschaft der GEMA. Richard Strauss brachte zwei von Sommers Opern in Berlin zur Aufführung und profitierte als Komponist hörbar von dessen Einfällen.
Nachdem seit dem Jahre 2010 diverse Konzerte und CDs Hans Sommer – auch mit späten Uraufführungen – erfolgreich beleuchteten, brachten die Bühnen der Stadt Gera erstmals wieder eine Oper des Komponisten zu Gehör.
Die Wahl fiel dabei wohl nicht zufällig auf die 1904 in Braunschweig aufgeführte, dann in Weimar und Berlin nachgespielte Oper Rübezahl und der Sackpfeifer von Neiße.
Kurz vor Kriegsende, im Jahre 1945, hatte Richard Strauss eine künftige Neuordnung des deutschen Opernspielplans entworfen, in dem selbstredend neben Wagner und Mozart keines seiner eigenen Werke fehlen sollte; dabei berücksichtigte er aber auch eine Oper, die schon einige Jahrzehnte lang nicht mehr erklungen war, eben Rübezahl von seinem alten AFMA-Mitstreiter Hans Sommer.
Strauss hatte die Partitur im Jahre 1904 für die Aufführung an der Berliner Hofoper radikal gekürzt. Die Geraer Produktion war mit 3 ½ Stunden Aufführungsdauer jedoch nahezu strichlos.
Dass die Oper nach den Inszenierungen in Braunschweig, Weimar und Berlin so rasch in Vergessenheit geraten war, lag wohl mit daran, dass Sommer ein grundsätzliches Misstrauen Verlegern gegenüber hatte. Sein gleichwohl gedrucktes Œuvre lagert heute in einem Familienarchiv in Luzern.
Auch das Braunschweiger Theater hatte seinen großen Sohn, der die letzten Jahre bis zu seinem Tod im Jahre 1922 wieder in seiner Vaterstadt lebte, bereits im Dezember 1919 vergessen, als es Das Märchen von Rübezahl zur Uraufführung brachte, nunmehr mit Musik von Rudolf Hartung.
Eher positiv erscheint im Lichte der Musikgeschichte, dass das Bändchen „Hans Sommer. Weg, Werk und Tat eines deutschen Meisters“ (Braunschweig 1939) aus der Feder des durch seine gehässigen antisemitischen Pamphlete in der NS-Zeit unrühmlich bekannten Erich Valentin keine Aufführungen nach sich zog. (Der entnazifizierte Valentin, später sogar Rektor der Hochschule für Musik in München, erwähnte Sommer nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.)
Felix Eckerles lesenswertes Geraer Programmheft, das auch das komplette Libretto der Oper enthält, zitiert eine 1905 erschiene Veröffentlichung zu Sommers Rübezahl von Willy Rössel.
Einen weiteren Beitrag, der sich partiell auch mit Sommers Kompositionen auseinandersetzt, fand ich im 1906 in Leipzig erschienenen Band I der „Monographien Moderner Musiker“; diese Monographie über Sommer stammt von Ernst Stier.
Den im Geraer Programmheft erstmals publizierten Auszügen aus der noch unveröffentlichten Autobiografie des Komponisten ist zu entnehmen, dass es mit der viel zitierten Freundschaft zwischen Strauss und Sommer doch nicht so gut stand.
Der Rübezahl-Stoff ist wiederholt vertont worden. Auch Carl Maria von Weber hatte die Geschichte aus Johann August Apels Gespensterbuch als Oper vertonen wollen, wovon noch die Ouvertüre Beherrscher der Geister sowie einige weitere Nummern zeugen; doch dann hatte sich Weber für den Freischütz aus derselben Stoffvorlage entschieden.
Den 1837 geborenen Hans Sommer reizten offenbar die zwei ganz unterschiedlichen Erscheinungsbilder der Sagengestalt aus dem Riesengebirge als kompositorische Gegensätze: gewaltsam ist Rübezahl nur in der freien Natur, in der Zivilisation ist er ein den Schabernack liebender, süffisant verschmitzter Freigeist.
Im Eberhard Königs Libretto zu Sommers Künstleroper geht es wieder einmal um die Frage der Wirksamkeit von Kunst – auch anstelle von Religion, wie von Wagner postulierend vorgegeben. Das am Ende der Rübezahl-Handlung besungene Fazit lautet: „Liebe und Kunst“.
Im Bühnenbild von Duncan Hayler sind die diversen Schauplätze der Handlung abstrahiert. Sie spielen um, auf, über und unter einer kreisenden und sich hydraulisch hebenden und senkenden Malerpalette; der Pinsel, mal im Griffloch ruhend, mal drohend erigiert, ist zugleich eine Kletterstange zwischen den Welten.
Denn der Sympathieträger der im schlesischen Ort Neiße angesiedelten Handlung ist ein junger Maler: Wido liebt die Ziehtochter des Tyrannen Buko, und der Aufruf zum Freiheitskampf bringt den – gleich dem Vorbild der elternlosen Wagnerschen Helden – verwaisten Außenseiter in einen Zwiespalt Wagnerschen Ausmaßes. Die mörderische Tenorpartie, in der die des Tristan und die des Siegfried, obendrein in höherer Tessitura, potenziert erscheinen, meistert Hans-Georg Priese erstaunlich.
Regisseur Kay Kuntze geht mit der Spielvorlage frei um. Da Hans Sommer zunächst als Professor für Mathematik und Physik am Braunschweiger Polytechnikum tätig war, führen die von Wido mit Hilfe Rübezahls für den Aufstand zu Hilfe gerufenen Männer aus den Bergen in der Geraer Inszenierung – statt Waffen – Musik- und Recheninstrumente mit sich. Bei seiner Schlussansprache schwebt Rübezahl in einem Flugwerk zwischen Erde und Himmel. Der als Gegenfigur des Vogts Buko wiederholt besungene, vom Vogt inhaftierte, greise Theobald wird in der Schlussszene im Auditorium als kindlicher, bärtiger Hoffnungsträger beschienen, während das Liebespaar auf ein spitzig verfremdetes, leuchtendes Gottesauge zuschreitet.
Wenn Rübezahls Stimme als Elementargeist erklingt, dann wird sie in Gera dämonisch elektroakustisch verstärkt. Der singende Berggeist gemahnt an den Wotan der Walküre, aber auch schon an den Prometheus in Walter Braunfels’ Oper Die Vögel, die erst 15 Jahre nach Sommers Opus 36 komponiert wurde.
In der zivilisierten Welt schlüpft Rübezahl in die Rolle des Dudelsackpfeifers Ruprecht, der den Menschen zum Tanz aufspielt und so Konflikte beschwichtigt – sogar brennende soziale Aufstände. Das klingt dann bei Sommer in jener Walzer-Seligkeit, die Ludwig Thuille in Lobetanz erfunden und Richard Strauss in seine Feuersnot übernommen hatte, um sie später im Rosenkavalier auszuweiten.
Aber wenn Rübezahl als Ruprecht über die Kunst philosophiert, dann gemahnt Sommers Melodieführung an die Belehrungen des Walther von Stolzing durch Hans Sachs in der Schusterstube der Meistersinger von Nürnberg.
Bis hin zum Nachtwächter (der in der Geraer Produktion in die Partie des Totengräbers subsumiert ist: Kai Wefer) stehen in Rübezahl – genau wie in Wagners Die Meistersinger von Nürnberg – einer großen Riege männlicher Partien nur zwei weibliche Rollenträgerinnen gegenüber: außer Gertrud (hochdramatisch: Anne Preuß) ihre Betreuerin Brigitte (hier im Glitzerkostüm zu einer Überfigur stilisiert, eindrucksstark im Gesang: Merja Mäkelä). Unter den insgesamt überdurchschnittlichen Leistungen des von Holger Krause einstudierten Chores und der hauseigenen Solisten ragt der dramatische Tenor Jueun Jeon in der kleinen Partie des Bernhard Kraft hervor.
Vogt Buko, in Gera mit Hitlersträhne in Blond, tritt erst im dritten Akt auf, den er dann aber eine knappe Stunde lang großenteils allein gestaltet. Kraftvoll singend, suhlt sich Johannes Beck als Buko in den Eingeweiden eines von ihm im Gebirge erjagten Hirschs, welchen er – als Ersatzobjekt für die sich seinen Zwängen entwindende Ziehtochter Gertrud – schließlich auch besteigt.
Alle Facetten der Partie des Rübezahl alias Ruprecht vermag der junge Bassist Magnus Piontek stimmlich überzeugend umzusetzen. In Kuntzes Inszenierung ist der Pfeifer kein Musiker, sondern ein Pfeife-Raucher, der mit seiner wundersteinartig leuchtenden (E-Zigaretten-)Pfeife dem Dirigenten im Graben die Einsätze zu den heiter-skurrilen Momenten der Partitur gibt. „Je ärger die Enge, je lust‘ger der Spaß, je bunter die Menge, je toller ich blas’“, kommentiert der zum wandernden Menschen Ruprecht mutierte Elementargeist.
Vergleicht man die Partitur von Sommers phantastisch-romantischer Oper mit seinem zwanzig Jahre älteren Opus 6, den sechs Sappho-Gesängen, so zeigt sich erneut Sommers treffliche Beherrschung des Orchesters. Doch die in Opus 6 genialisch aufblitzende Persönlichkeit scheint in der Oper wagnerschen Fahrwassers domestiziert und eingeengt durch die krude Dramaturgie des ihm kurioserweise von Strauss – und wie Sommer vermutet, nicht ohne böse Hintergedanken – empfohlenen Librettisten. Sommers Instrumentation ist prächtig, seine textbezogene Detailarbeit mit lautmalerischen Entsprechungen, insbesondere im Schlagwerk, exquisit. Die rund dreißig Motive, teilweise auf Liedgut beruhend, faszinieren in additiver Sequenzierung, wie in den Veränderungen ihrer Durchführung.
Das Hauptthema des Sackpfeifers kenne ich als den Faschingsschlager „Gehn ma mal nüber zum Schmidt seiner Frau“. Stier referiert, dass diese Melodie bald nach der Uraufführung „Großvater“ genannt wurde, verweist aber darauf, dass sie bereits bei Robert Schumann (in den Papillons op. 2 und im Karneval op. 9) zu hören ist.
Bei dem auf dem Friedhof spielenden Totentanz im vierten Akt operiert der Sommer mit Ganztonskalen, dabei dominiert der Einsatz des Xylophons als eine Art Knochen-Maschinerie.
GMD Laurent Wagner gelingt es, in der Fülle von Einfällen skurriler und komischer Reize den großen Bogen nicht außer Acht zu lassen. Die Bläser des Orchesters Theater & Philharmonie Thüringen sind zumeist besser disponiert als die Streicher. So gesehen ist es doppelt erfreulich, dass Deutschlandradio diesmal nicht die Opernpremiere übertragen hat, sondern in Kürze die gesamte Partitur drei Tage lang zu Studiobedingungen im Konzertsaal des Geraer Theaters produzieren wird. Deutschlandradio-Redakteur Stefan Lang hat die Wiederaufführung von Hans Sommers Oper beim Geraer Intendanten Kay Kuntze selbst initiiert, wofür er vom Premierenpublikum ebenso gefeiert wurde wie alle Mitwirkenden.