Faust, postdramatisch
Die Aufführung ist ein formales Experiment. Sie wurde zum Berliner Theatertreffen 2012 eingeladen. „Ein Theaterereignis“, jubelt die FAZ. Geschickter bringt es das Hamburger Abendblatt auf den Punkt: „ein Abend, der fesselt, verwirrt, nervt und erhellt.“ Beim Gastspiel in Antwerpen sah man ebenso wie bei den meisten Aufführungen in Hamburg und nahezu allen auswärtigen Gastspielen nur die Hälfte – Faustens ersten Teil. Die Hälfte dauert auch schon drei Stunden und zwanzig Minuten. Die nerven. Und faszinieren.
Drei Stunden und zwanzig Minuten sind eigentlich nicht unnormal für einen Faust I. Die Länge ist aber auch schon das einzige, was an Nicolas Stemanns legendärem Projekt normal ist. (Das dauert übrigens acht Stunden, wenn das Thalia Theater Hamburg mal wieder besonders großzügig beide Teile am Stück über die Rampe dröhnen lässt.) Johann Wolfgang von Goethes Opus Magnum wird zwar auf Basis des Originaltexts gegeben, aber zu einem exquisiten Stück postdramatischem Theater verwurstet. Mit exquisiten Darstellern: Sebastian Rudolph und Philipp Hochmair, die zum Verwechseln ähnlich spielen. Hochmair ist eine Ich-AG. Wenn ihn keiner bremst, spielt er selbstverliebt bis zur Unerträglichkeit. Exaltiert ist er sowieso. Stemann liebt ihn, also bremst er ihn nicht, und die beiden sind eines der Traumpaare der deutschsprachigen Theaterkritik. Und Rudolph – macht den Hochmair in dieser Inszenierung. Ich sag‘ nicht, dass das nicht gut ist, was die beiden abliefern. Man muss es aber nicht mögen.
Natürlich ist es kein Zufall, dass man Rudolph und Hochmair kaum voneinander unterscheiden kann. Der eine ist das Alter Ego des anderen. Die ganze Faust-Eins-Personnage sei „bloß Spiegelung einer multiplen Seele“, wie nachtkritik.de es ausdrückt. Deshalb reden erst Rudolph und dann Hochmair alles, was Goethe geschrieben hat, egal ob er den Text Mephisto oder Faust oder sonst wem zugedacht hat. Ein durchgeknallter Egozentriker und Psychopath ist die multiple Persönlichkeit, der der gesamte „Faust“ in der Seele schmerzt – eine Interpretation, der man intellektuell gern folgt, die auszuhalten in der Hamburger Inszenierung nicht immer einfach ist.
Rudolph steht in der ersten Stunde ganz allein auf der Bühne – dann erscheint Hochmair und man meint, er mache den Mephisto. Macht er aber nicht – Hochmair gibt ebenfalls alle Figuren – und Patrycia Ziolkowska, die erst kurz vor der Pause einsteigt, auch. Die jeweils anderen werden dann zu besseren Stichwortgebern. Doch erleben wir auch in den ersten Stunden alles andere als einen monologischen Faust: Erst Hochmair und dann Rudolph spielen die zwei (wahlweise auch mehr) Seelen in ihrer jeweiligen Brust nach Herzenslust aus, und wenn sie in sich selbst keinen Dialogpartner finden, nehmen sie das Reclam-Heft. Mühsam scheinen sie sich den Text anzueignen; Rudolph schlurft schüchtern wie ein Schuljunge mit dem gelben Heft in der Hand über die Bühne und liest, in Reihe 15 kaum noch verständlich, dilettierend die „Zueignung“. Um dann einen einzelnen Vers in voller Lautstärke Richtung Publikum zu dröhnen: „Sie hören nicht die folgenden Gesänge!“ – Ja, jede Menge Humor hat die Aufführung auch. Wenn Rudolph mit liebevoller Ironie mit dem Publikum flirtet, entdecken wir verblüfft, was der olle Goethe doch für eine tolle Anmache geschrieben hat.
Faust erweist sich als ziemliches Multitalent – da ist Stemann ganz bei Goethe. Faust ist Künstler: Er versucht sich in Drip Painting oder komponiert am Laptop die Musik, die seine
gerappten und verzerrten, deklamierten und genölten Dramenverse begleitet. Die Schauspieler ruinieren ihre Stimmen, nerven durch ihre Exaltiertheit – aber das tun sie virtuos. Magisch wird die Inszenierung immer dann, wenn die wunderbare Friederike Harmsen eingreift. Die Hamburger Sopranistin singt den Chor der Geister, den „Neige, Du Schmerzensreiche“ Monolog (übrigens begleitet von einer großartigen Choreografie), aber auch eine Arie mit einem Text aus der Sekundärliteratur: postdramatischer geht’s nimmer, atemberaubender, faszinierender auch nicht. Der ganze Abend wird mehr und mehr zu einem großen Wort- und Musikkonzert, bei dem man sich auch schon mal zurücklehnen und nur auf den Rhythmus lauschen darf – vielleicht wäre das ohnehin eine gute Idee, denn man müsste sich nicht über die exaltierten beiden Männer ärgern. Oftmals ist es der Klang, nicht der Inhalt der Worte, der fasziniert und den Zuschauer bisweilen in Trance zu versetzt. Immer wieder schälen sich auch phantastische Bilder aus dem verbalen Überdruck, unter dem die Inszenierung leidet.
Kurz vor der Pause ergänzt Patryzia Ziolkowska das irre Männer-Duo. Auch sie startet mit einem elend langen Exaltiertheits-Solo, vorwiegend mit Texten von Faust, teilweise auch von Mephisto. Doch zu früh ist enttäuscht, wer sich auf Ziolkowska als Gretchen gefreut hat. Wunderbar ist das Bild, wenn das Geschmeide, das die Mephisto-Seele der Faust-Seele als Gretchen-Geschenk beschafft, vom Schnürboden herunterbaumelt. Viele, viele Meter lang glitzert es im Licht - welche Frau könnte da schon widerstehen? Ungarische Zigeunermusik gibt es zur Liebeserklärung – ohne dass Hochmair und Ziolkowska wahre Romantik über die Rampe bringen. Da haben sie Goethes Vorlage zu ernst genommen: „Die ganze Welt ist mir verrückt, mein ganzer Sinn ist mir zerstückt“ – so klingt leider auch die Sprache der Liebenden. Wunderbar dann wieder Fausts Reaktion auf Gretchens Frage nach der Religion: Ganz verschreckt hält er inne – und zippt dann einfach am Reißverschluss von Gretchens Kleid.
Die Zahl der überzeugenden Bilder nimmt zu gegen Ende der Inszenierung, wie ja auch Faust II, der in Antwerpen leider nicht gezeigt wird, erheblich farbenfroher und burlesker sein soll als der stark reduzierte erste Teil. Bei dem muss man seinen Faust schon kennen, um stets zu begreifen, was abgeht. Aber wie einfach durch eine ungewöhnliche Gestik, Mimik und Betonung diesem Faust Aktualitäten entlockt werden, die nur bei extrem genauem Lesen der Verborgenheit entrissen worden sein können, überrascht. Mindestens fünf verschiedene Fassungen habe das Team während der langen Proben erarbeitet, hat Sebastian Rudolph einmal verraten, und man improvisiere und verändere immer noch.
Ja, der 3-Personen-Einser-Faust ist „ein selten gesehenes Husarenstück”, wie der eine oder andere Kritiker behauptet. Es ist aber auch: ein furchtbar anstrengendes formales Experiment. Postdramatische Kunstkacke, werden konventionelle Literaten unter den Theatergängern sagen. Aber: Wir hören fast den gesamten Faust – im Original. Seien Sie nicht so streng. Das Ding wird stehend umjubelt, und die drei auf der Bühne ziehen eine eindrucksvolle Show ab. Sowas muss man mal machen können. Aber jeden Abend braucht man das nicht …