Das Nordlicht hören
Im Rundraum des ehemaligen Kinos Kosmos in Ostberlins Prunkstraße Karl Marx-Allee wandern 60 Choristen durch den sitzplatzlosen Raum, versuchen den Kosmos im Kosmos zu suggerieren, was bereits mit der Fragestellung von Charles Ives recht gut gelingt – als Quadratur des Kreises, mit dem Orchester in den vier „Ecken“ des runden Raumes, wobei ein zweiter Dirigent (Benjamin Goodson) den schwebend spätromantischen Streicherklang durch die konterkarierend störenden Bläser (Trompete, vier Flöten) hinterfragen lässt. Der Unanswered Question des Zusammengehens von Mystik, romantischem Empfinden und eruptiver Natur, schließt sich in rotem und gelbem Licht die breit gefächerte a cappella Komposition Sun-Dogs von James MacMillan an, auf eine die Nebensonnen als verstörende Hunde-Erlebnisse mit Exzerpten aus dem Neuen Testament collagierende Dichtung von Michael Symmons Roberts. Flüsternde Sprechstimmen im Bass, pfeifend und murmelnd, später Gebets-Gemurmel über einer obligaten, volkstümlichen Pfeif-Melodie und lautes Atmen, wie im Schlaf. Die Choristen wechseln für die einzelnen Abschnitte ihre Positionen im Raum, bisweilen sogar während des Singens, finden sich in immer wieder neuen Formationen für die partiell auch doppelchörige Komposition, mit welcher die Chormitglieder ihr Können zum Teil auch solistisch unter Beweis stellen. Der Zuhörer wird hellhörig, auch für leise Passagen – und stellt das Rauschen der Klimaanlage als störend fest.
Nach einer guten halben Stunde beginnt das Hauptstück, das in Latvia uraufgeführt wurde und vor der Deutschen Erstaufführung bereits in vier anderen Ländern zur Aufführung kam. Denn Nordic Light war ein gemeinsames Auftragswerk an den 1977 geborenen Eriks Esenvalds, von Rundfunkchor Berlin mit Partnerchören und -Orchestern in Riga, London, Toronto, Melbourne und Seattle.
Der Komponist hatte dann drei Jahre lang das Nordlicht und dessen Widerschein in Geschichten und Liedern der nordischen Völker recherchiert, war mit einem Kamerateam durch Nordskandinavien, Island, Grönland und Alaska gereist, wo er die Erzählungen und Gesänge aufgezeichnet hat, die er anschließend als originale Tonaufnahmen und Videoaufzeichnungen in den Klangfluss seiner Gesamtkomposition integrierte.
Das so entstandene Gesamtkunstwerk, zum Spiel des Chores, links und rechts in Hälften stehend und des mittig im Raum sitzenden Orchesters, beginnt mit einem Live-Melodram des Rezitators Soscha Glintenkamp und mit Projektionen der vorproduzierten Film- und Musiksequenzen auf drei Screens. Das Deutsche Symphonieorchester Berlin und der Berliner Rundfunkchor steuern zum kosmischen Rauschen summende Klangflächen, die Solo-Violine der Konzertmeisterin auch schluchzende Stimmungsmomente bei.
Bei der Integration der vorproduzierten, „dokumentarischen“ Video-Kommentare über die Erzählungen der Vorfahren, Mythen und Sprüche, wie auch persönliche Erlebnisse und eigene Erfahrungen mit Farben und Formen der Nordlichter, scheut Eriks Esenvalds nicht den Cross-over zur Popmusik. Deutsch untertitelt, singen und kommentieren Alte und Kinder, Sängerinnen und Sänger, folkloristisch in ihrer Nationaltracht gekleidet. Teils tänzelnd, teils hintergründig ernst oder heiter-verschmitzt, begleiten sie sich dabei bisweilen selbst mit Zither, Hand- oder Maultrommel. Abschließend benennt jeder der Befragten das Nordlicht in seiner Sprache – eine Palette an Namen, von Alaska bis Finnland, so facettenreich und farbintensiv, wie die Aufnahmen des Videokünstlers Kjetil Skogli. Der junge Dirigent Gijs Leenaars, Leiter des Rundfunkchores, hat die Multimedia-Sinfonie sicher in der Hand.
Begeisterter Applaus des Publikums, das die gute Stunde auf dem Hosenboden sitzend zubringen musste, auf gering verbleibendem Platz zwischen Orchestersitzen und diversen Chorformationen eingepfercht.