Shakespeare und die Quantenmechanik
Anna liebt William. Anna liebt Shakespeare. Shakespeare liebte Anne. William liebt Shakespeare nicht. Liebt William Anna? - Aber ja doch. Er ist sogar eifersüchtig. Deshalb zündet er das Globe Theater an. Und verbrennt. So wird er eins mit der Asche der elisabethanischen Erinnerungskultur. Das war am 5. August.
Eigentlich fragt William lieber: „Wie liebst du mich?“ So wie Michel Piccoli Brigitte Bardot fragt, in Godards Film Die Verachtung. Denn William liebt Jean-Luc Godard. Bei einer Retrospektive von dessen Filmen hat er sie kennengelernt, im Kino. Da saßen sie zufällig nebeneinander. Zufall oder Koinzidenz, Vorsehung oder Fügung? Schon sind wir einem der großen Themen von Paul Pourveurs kleinem Stück auf der Spur. Gibt es Zufälle? Hängt nicht alles mit allem zusammen? - Die Liebe von Anna zu William ist grenzenlos. Jedenfalls die zu Shakespeare. Die zu ihrem Kinositznachbarn vielleicht auch. Jedenfalls fährt später ein 1991er VW Golf durch Brüssel und rollt in den Kanal. Annas Leiche wird daraus geborgen. Das war am 5. August.
Anna ist Schauspielerin; sie spielt in dem bekannten 540 Minuten Königsdramen-Digest nach Shakespeare (Theaterfreunde ahnen, welcher gemeint ist). So grenzenlos sie William Shakespeare liebt, so grenzenlos ist die Wut von William dem Shakespeare-Verächter auf die Globalisierung. William arbeitet bei GAP (!), würde nie Schuhe von Nike tragen und liebt Anna, obwohl sie T-Shirts aus San Salvador trägt. Was solche Globalisierungs-Shirts für Unheil anrichten können, hat Philipp Löhle in Das Ding beschrieben. Bei Löhle blickte man irgendwann durch. Bei Pourveur nicht. Das macht aber nichts. Denn auch Pourveur kann Spaß machen. Dem Tüftler, der sich freitags immer auf die Kreuzworträtsel in der FAZ freut. Auf vergleichbarem Niveau muss man das virtuos ineinander verschachtelte Assoziations-Puzzle des 63jährigen belgischen Dramatikers entwirren.
Globalisierungsgegner William hat bei Pourveur zwei Schwestern im Geiste: Naomi und Noreena. Noreena Hertz bezeichnete die FAZ einmal als „Geheimwaffe gegen die Generation Golf“. Naomi Klein und Noreena Hertz begannen irgendwann, gegen die Globalisierung zu demonstrieren. Das war am 5. August. Sie erinnern sich: An einem solchen Tag rollte in Brüssel ein 1991er Golf in den Kanal... Antipoden zu Noreena und Naomi sind Margaret und Ronald. Die beiden Schüler gehen in die Bibliothek, um Miltons Paradise Lost auszuleihen, die Geschichte vom Höllensturz, vom Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies. Stattdessen greifen sie zu Milton Friedmans Free to Choose, in dem Gott durch den Markt und das Geld repräsentiert wird. Ein zufälliger Irrtum? Oder Vorsehung? – Es geschah am 5. August, und Margaret Thatcher und Ronald Reagan wurden zu Anhängern des neoliberalen Monetarismus.
Wissen Sie eigentlich, wie William Shakespeares Karriere als Dramatiker und Schauspieler begann? Eines Tages tötete der junge Willie im Park von Stratford-opon-Avon einen kapitalen Damhirsch. Wilderei nennt man sowas. William floh vor der Strafverfolgung nach London und wurde notgedrungen zum Genie. Sie ahnen, an welchem Tag sich das Verbrechen zutrug: Es war am 5. August.
Ceci n’est pas une pièce comme cela n’était pas une pipe: Die postdramatische Textfläche des Belgiers Pourveur hat etwas von der Surrealität und der Poesie des Belgiers Magritte. Sie steckt voller Humor und Selbstironie: William wünscht sich, dass er ein wenig chronologisch denken könnte, doch Chronologie ist gewiss das, was dieser Text am wenigsten aufweist. Er steckt voller grotesk anmutendem Assoziationsmaterial, das keineswegs nur den angeblichen drei Weltbestsellern entnommen ist, die in den Bücherschränken unserer Eltern schlummern (der Bibel, Karl Marx‘ Das Kapital und Shakespeares gesammelten Werken). Er wechselt munter hin und her zwischen 17. und 21. Jahrhundert, verschränkt die Handlungsebenen ineinander, so dass die Annes und die Williams der verschiedenen Zeiten ineinanderfließen. Denn alles hängt mit allem zusammen. Globalisierungskritik wechselt ab mit ironischem Hinterfragen heutiger linker oder ökologischer Ideologien und sarkastischem Spott auf den Shakespeare-Kult und die Shakespeare-Rezeption.
Jeder Zuschauer kann sich sein Stück im eigenen Kopf zusammensetzen. Am Stadttheater Gießen befördert den Gedankenfluss der Zuschauer zuvörderst der „Sound Operator“ Stefan Herfurth mit seinen elektronischen Harmonien und Kakophonien. Anne-Elise Minetti singt ein wunderschönes Lied von Eddie Brickell und den New Bohemians, und die drei Schauspieler, auf die Regisseur Patrick Schimanski den Text verteilt hat, kreieren ein bisweilen mitreißendes Wortkonzert. Minetti, Petra Soltau und Pascal Thomas sprechen den Text mit gutem Gespür für seinen Rhythmus mal deklamierend, mal im Plauderton, mal chorisch und einmal sogar als Kanon und bilden ein ausgesprochen homogenes Team. Besonders intensiv wird die Aufführung, als die Schauspieler extemporieren und eine offene Diskussion mit dem Publikum anzetteln. Großartig gelingt auch eine Szene zwischen Hamlet und Ophelia, bei der der Text aus dem Off über die Lautsprecher geflüstert wird. „Hearing your wonderous stories“, singen Petra Soltau und Anne-Elise Minetti, und in der Tat: Wunderlich ist uns manchmal zumute, wenn wir mal wieder nicht verstehen, was abgeht. Aber der Text hat auch dann Magie, wenn man nicht alles zu entschlüsseln vermag.
Shakespeare is dead. Get over it, sagt Paul Pourveur, der wohl doch eher dem jungen William zuneigt als der jungen Anne. Ausgerechnet des Rezensenten Lieblings-Derivat vom großen William veralbert er in seinem Stück, die zwölfstündigen Schlachten von den Salzburger Festspielen 1999 oder ihren belgischen Vorgänger Ten Oorlog. Sämtliche Königsdramen an einem Tag (außer Heinrich VIII., wie Pourveur geflissentlich bemerkt und sonst noch niemand mitgekriegt zu haben scheint) wurden damals mit ungeheurer Wucht und kraftvollen Bildern über die Rampe geschleudert – von Pourveurs belgischem Landsmann Luk Perceval. Pourveur hat Ten Oorlog gegenüber der Amsterdamer Zeitung „Trouw“ einmal als „größenwahnsinnigen Zirkus, der den Zeitgeist der 90er Jahre vortäuschte“ bezeichnet. Er mag auch den ganzen Touri-Rummel rund um Stratford-upon-Avon nicht, mitsamt den furchtbaren Devotionalien, die einen an Lourdes oder an die Souvenirshops auf dem Petersplatz erinnern. Aber welcher Shakespeare-Fan fährt denn heute noch nach Stratford-opon-Avon?
Am Ende sind sie alle tot. Nur Shakespeare lebt, mehr als es dem Meister der Postdramatik lieb ist. Shakespeare ist gleichzeitig existent wie nichtexistent, wie Niels und Werner bei einem Spaziergang an Schloss Helsingør entdecken – am 5. August natürlich. Die Quantenphysiker Niels Bohr und Werner Heisenberg wissen, dass das Universum nicht mit einfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zu erklären ist. Und dass alles mit allem zusammenhängt – womit die Quantenmechanik ganz nah beim elisabethanischen Weltbild ist. Alles hat miteinander zu tun: Der Damhirsch, dessen Ermordung am 5. August die literarische Karriere William Shakespeares auslöste, das Leiden von William an der Leidenschaft von Anna, die suizidale Versenkung des 1991er Golf im Kanal, Ronalds und Margarets Schullektüre und Williams Wut auf die Globalisierung. Alles hängt mit allem zusammen. Der 5. August soll das nur versinnbildlichen.
Oder hat er übersinnliche Bedeutung? Mal was ganz Privates gefällig? Der Schreiber dieser Zeilen liebt seine Familie und William Shakespeare. Ein Globalisierungskritiker ist er nicht. Einst steuerte er ein Wohnmobil durch die kanadischen Rocky Mountains. Tausende von Meilen durch die Heimat von Naomi Klein, an Bord seine gesamte Familie. An der letzten Abfahrt versagten alle vier Bremsen. Der Höllensturz drohte, doch John Milton und Milton Friedman waren uns mächtig egal. Anstelle eines Kanals erwartete uns eine Auslaufzone. Es war am 5. August - ungelogen.
Des realen Shakespeares Ehefrau hieß, wie eingangs angedeutet, auch Anna. Anne Hathaway überlebte ihren Gatten um sieben Jahre. Sie starb am 6. August 1623. Am sechsten, nicht am fünften. Da hat sie Paul Pourveur eins ausgewischt.