Aus der Castorf - Factory
Der jüdische Arzt, Romancier und Dramatiker Alfred Döblin schuf im Jahre 1931, zwei Jahre nach Erscheinen seines Bestseller-Romans, für die 84-minütige Verfilmung mit Heinrich George als Franz Biberkopf selbst eine Spielfassung von Berlin Alexanderplatz.
Im Jahre 1979 brachte Rainer Werner Fassbinder seine Lesart des Romans in 14 abendfüllenden Teilen auf die deutschen Bildschirme. In Berlin gab es in den vergangenen zwei Dezennien Frank Castorfs fünfstündigen Theatermarathon im leerstehenden Palast der Republik, Produktionen am Maxim Gorki Theater und an der Schaubühne in einer Inszenierung von Volker Lösch.
Wer den Roman nicht gelesen und keine der Verfilmungen gesehen hat, wird sich schwer tun mit der Berliner Neuinszenierung am Deutschen Theater. Den jüngeren Gepflogenheiten des Schauspiels folgend, wird die Geschichte antilinear erzählt, und im 12-köpfigen Ensemble gibt es keine Rollenfestlegungen. Die Spielvorlage hat sich das Ensemble in 14-tägiger Lesearbeit, zusammen mit Dramaturgin Meike Schmitz und dem Regisseur Sebastian Hartmann, aus den persönlichen Lieblingsstellen der Lektüre collagiert. Die so entstandene Montage aus fragmentierten Roman-Texten und eigenen Einschüben versteht der Regisseur als einen „Traum im Traum“. Als sein eigener Bühnenbildner hat Hartmann den großen weißen Rundraum der Volksbühne (aber ohne deren Kuppel) auf der Bühne des Deutschen Theaters nachgebaut. Auf der häufig kreisenden Drehscheibe werden drei gewaltige Leuchtröhrentürme verfahren, ohne dass so einleuchtende neue Räumlichkeiten definiert würden. Die Lichtbatterien blenden das Publikum – und dies bewusst über der Schmerzgrenze, denn jedes Mal, wenn das Licht von Null auf Hundert hochgefahren wird, schallt qualvolles Stöhnen aus dem Auditorium. Dunkler ist es nur, wenn Tilo Baumgärtels gezeichnete Animationen über die gesamte Bühne flackern – häufig mehrfach hintereinander, da die gespielten Szenen länger sind als die dafür vorbereiteten Videosequenzen. Dazu wird dann auch dezentere Musik eingespielt – zweimal das Vorspiel zu La Traviata und einmal das zu Lohengrin – während sonst die Lautstärke der Einspielungen und insbesondere die der Pistolenschüsse durchaus den Tatbestand von Körperverletzung erfüllen – schließlich geht es ja um ein kriminelles Thema. Stampfende Schritte auf dem Bühnenboden werden als Dröhnung verstärkt, wie denn auch oft und gerne zu laut intoniert wird. Ein Hinweis auf die akustischen und Beleuchtungsextremitäten wäre auf dem Besetzungszettel allerdings dringend angebracht.
Bereits im ersten Teil des Abends haben alle wichtigen Szenen aus dem Leben des Franz Biberkopf stattgefunden, seine Entlassung aus dem Gefängnis, seine Resozialisation durch Geschlechtsverkehr mit der Braut eines Anderen, seine erneute Kriminalisierung als „Ludewig“ seiner geliebten Mieze, seine Schwerbehinderung durch den von einem Auto abgefahrenen Arm und Reinholds Mord an Mieze. Dabei dient eine Alubox als Wohnung der Geliebten und später als wiederverwendbarer Sarg.
Möglicherweise unter Bezugnahme auf die 1901, nach der Gründung des „Überbrettl“ am Alexanderplatz als erstem deutschen Kabarett, wie Pilze aus dem Boden schießenden Kabaretttheater – beginnt der zweite Teil mit kabarettistisch aktualisierten Genreszenen, einem gesprochenen Couplet, dem Lied Die Schwerkraft und dem drastisch ausgespielten Fress- und Verdauungsakt eines Dicken, was an Herr von Bombardil des Überbrettl-Dichters Rudolf Alexander Schröder erinnert.
Ein gejagter Nackter soll den Bogenschlag zu Biberkopfs Zeit im Schlachthof bringen. Im dritten Akt hängt dieser nackte junge Mann am Kreuz, wird von einer jungen Schönen abgenommen und rezitiert dann, während eines stellungsreichen Kopulationsakts, gemeinsam mit ihr den Text über ein zur Schlachtbank geführtes Lamm. Die Inszenierung gibt auch der metaphysischen Ebene des Romans viel Raum, lässt die Hiob-, Isaak- und Jakob-Szenen und diverse Dialoge kommentierender Vögel und Todesengel breit ausspielen. Die Leuchtröhrentürme, im letzten Akt zu einem Triptychon mit begehbarem Mittelkreuz zusammengeschoben, verstehen sich als eine Art Altar für den überzeugten Atheisten Döblin, der mitten im Zweiten Weltkrieg, nach Frankreich exiliert, zum Katholizismus konvertiert ist.
Die einfache, bisweilen theatral überhöhte Kleidung, für die Adriana Braga Peretzki, auch Kostümbildnerin des derzeitigen Bayreuther Ring-Zyklus, verantwortlich zeichnet, schlägt ebenso den Bogen zur Castorf Factory wie die Videos von Voxi Bärenklau.
Die zweite Pause im Deutschen Theater beginnt, wenn in der Regel die Aufführungen bereits zu Ende sind. Zwei Pausen im Schauspiel sind ungewöhnlich, werden sie doch sogar im Musiktheater zusehends vermieden.
Zu den eindrucksvollen Momenten des insgesamt zu lang geratenen Abends gehören Chorszenen, in denen das Ensemble Döblins beschreibende Texte als antiker Chor á la Einar Schleef skandiert. Die vielschichtige, auf clownesken Momenten basierende Darstellung von Andreas Döhler als Biberkopf bleibt dem Betrachter ebenso im Gedächtnis, wie die Liebes- und Saufszene seines Kollegen Christoph Franke in derselben Rolle, Katrin Wichmann als zweite Darstellerin der Mieze, und die finale, breite Gestaltung der Tödin durch Almut Zilcher.
In den Applaus nach der B-Premiere mischten sich vereinzelte Buhrufe des persönlich schmerzbetroffenen Publikums gegen den Regisseur.