Die Geschichte (nicht nur) einer lebendigen Leiche
Auf die große Bühne des üppig neobarock ausgestatteten Deutschen Schauspielhauses setzt die Bühnenbildnerin Anna Viebrock eine marode Häuserwand aus vergilbtem Backstein. Im Obergeschoss hängt verloren vor heruntergelassener Jalousie ein braunes Mädchenkleid mit Spitzenkragen, davor lesen wir in riesigen Großbuchstaben „INST“. In der unteren Etage erkennt man in schmalen Kabinen hinter bräunlich schmuddeligem Glas schemenhaft menschliche Formen. Sind es Puppen, Leichen, Menschen?
Einzelne Töne und gezupfte Melodienfetzen schwirren durch den Raum - sie scheinen aus dem Orchestergraben aufzusteigen - dann kommt in behäbiger Langsamkeit ein Handwerker ins Bild mit einer riesigen Leiter, lehnt sie an die Fassade und versucht in immer neuen Ansätzen die fehlenden Buchstaben zu einem Namen zu ergänzen. „ANA M INST“ schafft er, da brechen die Sprossen aus der Leiter. Der Mann schleicht davon - unter Gelächter und Applaus für die gelungene Slapstick-Einlage. Uns bleibt die Interpretation: selbst der Abstieg ist mühsam und gefährlich und da wir in einer Marthaler-Inszenierung sind, werden wir uns dreieinhalb Stunden auf radikale Entschleunigung des gesellschaftlichen und persönlichen Untergangs einlassen müssen. Dabei bleibt der eigenen Phantasie Raum und Anregung. Damit können wir sogleich beginnen und die fragile Beschilderung zu „ANATOMISCHES INSTITUT“ ergänzen oder die Musikfetzen zu Schuberts d-Moll-Streichquartett Der Tod und das Mädchen zusammenfügen. Später folgen dann Fragmente aus Alban Bergs Violinkonzert „Dem Andenken eines Engels“ und immer wieder aus Chopins b-Moll-Trauermarsch. Aber auch von Einzel- und Chorgesängen - vom Bachschen Choral Wer hat dich so geschlagen über den Armeemarsch Alte Kameraden, Franz Léhars Glücks-Duett aus Der Graf von Luxemburg und einigen Schnulzen - wird die Aufführung musikalisch begleitet und zwar unter der Leitung des als kantig-gestriegelte Kunstfigur auftretenden Pianisten, Sängers und Arrangeurs (Clemens Sienknecht), der sich zunächst allerdings als Dirigent auf der Vorbühne aufbaut und dort in großer Pose ein Gespenster-Orchester scheindirigiert: auf einem Konglomerat von klapprigen Küchenstühlen schallt es aus sechzehn in die Jahre gekommenen diversen Lautsprechern - mal mehr, mal weniger harmonisch, mal mehr oder weniger verständlich.
Während oben in der Bühnenwand die rotleuchtenden Ziffern einer Digitaluhr völlig chaotisch - mal vorwärts, mal rückwärtszählend, mal sprunghaft, mal geruhsam - eine irreale Zeit angeben, erscheint unten auf der Bühne ein würdiger alter Herr, der „Baron mit dem Trauerflor“ (Ulrich Voß) und deklamiert 1. Mose 8:21,22... „denn das Trachten (in der Lutherbibel heißt es `Dichten`!) des menschlichen Herzens ist böse“.
Horváth stellt dem Stück-Text eine Art Vorwort voran, in dem er uns wissen lässt, dass die Idee zu dem Drama von seinem Freund, dem Gerichtssaalberichterstatter Lukas Kristl stammt und auf einem authentischen Fall beruht. Und dass er in einem Gespräch mit eben diesem Ideengeber zu dem Titel (der uns zweifellos auf den Paulusbrief 1. Kor. 13,13 verweist) bemerkte: „GLAUBE LIEBE HOFFNUNG könnte jedes meiner Stücke heißen“ und die Bibelstelle aus dem Alten Testament könne gleichfalls jedem der Stücke als Motto vorangestellt werden.
Nicht nur die Rezension sollte zum Geschehen kommen, auch auf der Bühne dehnt sich das Vorspiel. Doch dann erscheinen die Darsteller, neun groteske Figuren stehen am Bühnenrand in Reih und Glied: uniformiert, typisiert, karikiert, kostümiert, puppenhaft entindividualisiert. Und endlich erscheint auch die Hauptfigur Elisabeth und zwar gleich zweimal: einmal im roten Mantel (Olivia Grigolli), einmal im blauen Mantel (Sasha Rau). Sie fragt nach der „Zuständigen Instanz“, um ihre „lebendige Leiche“ an das Anatomische Institut zu verkaufen, denn sie braucht ganz dringend 150 Mark. Und da sind wir gleich mitten im Drama: der Vizepräparator willigt zwar nicht in den Vorausverkauf der zukünftigen Leiche ein, leiht ihr aber das Geld, vermeintlich für einen „Wandergewerbeschein“ zum ambulanten „ Korsett- und Hüftgürtel -Handel“. De facto aber zahlt sie damit die Strafe, die sie als illegale Handelsvertreterin aufgebrummt bekam. Als der Gönner das entdeckt, denunziert er sie als Vorbestrafte und Betrügerin. Während sie nur „was zum Fressen“ suchte, verstrickt sie sich im Teufelskreis der Zumutungen und ist dem prekären sozialen Abstieg hilflos ausgeliefert. Als Liebchen des Polizisten gefährdet sie dessen Karriere, er verlässt sie, ehe es recht begann. Ausgestoßen und gedemütigt geht ihr der Glaube an ein bisschen Liebe und die Hoffnung auf „was zu Fressen“ verloren: sie geht ins Wasser und wird gleich fünffach als Wasserleiche auf die Bühne geschleppt. Die Moral von der Geschicht ist klar: Elisabeths Schicksal ist symptomatisch für die Zeit der Wirtschaftskrise 1932 - und ganz sicher nicht nur für diese.
Das alles bietet die Inszenierung doppelt: zweimal beschuldigt, zweimal verliebt und verstoßen, zweimal gescheitert. Nur im Tod dürfen die beiden Elisabeths sich vereinen, sie sterben eng umschlungen. Das alles spielt sich in den suggerierten Räumen des Anatomischen Institutes ab, das Damokles-Schwert der Lebendigen- Leiche schwebt über allem. Nach einem Umbau - die beiden Elisabethen müssen kräftig mit Hand anlegen - erscheinen an der linken Wand eine Menge Toten-Porträts. Wenn man günstig sitzt, erkennt man Schubert und Chopin, Theatergrößen wie Ivan Nagel und Thomas Langhoff, Prominente und Vergessene.
Es wird nicht langweilig in der langgedehnten, gelegentlich vielleicht zerdehnten, surreal bebilderten und musikalisch begleiteten Inszenierung. Und doch: Wozu die unermüdlichen, konsequenten Doppelungen? Zumindest bei der Bettszene gibt es gar keinen Sinn: da wird das eine Bett wie im Leichen-Kühlhaus schubladengleich aus der Toten-Porträts-Wand gezogen, das andere wie im Junggesellen-Appartement ausgeklappt: nur ein Scherz? Und die Doppelung des Schupos, seines Versteckspiels und Entdeckt-Werdens verliert in der Wiederholung die groteske Note. Da wird eine Idee zu Tode geritten. Selbst die Doppelung der Elisabeth, so unterhaltsam und bühnenwirksam sie auch ist, bleibt in mancher Szene fragwürdig, da sie weder zur Charakterisierung noch zur Intensivierung beiträgt. Die „Heldin“ des Stückes, die als einzige in der Aufführung nicht karikiert oder ironisiert wird, verliert durch die Doppelung ihr emotionales Zentrum.
Horvath nannte sein Drama im Untertitel „Einen kleinen Totentanz“, gab ihm aber eher groteske als tragische Züge. Marthaler schärft die Linien ins Sarkastische, gelegentlich Monströse. Seine surrealen Kunstfiguren amüsieren, faszinieren und erschrecken zugleich und liefern ein Meisterwerk der Schauspielkunst ab. Ganz gleich, ob sich die gesamte Truppe beim Summen, Wispern oder Schnulzen-Singen selbst ironisiert oder die „ Frau Amtsgerichtsrat“ (Irm Hermann) den Prototypen der Spießer-Gattin mimt: einfach grandios!
Seit Karin Beier das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg künstlerisch leitet, führt Marthaler wieder alljährlich einmal dort Regie: erwarten wir die nächste Inszenierung mit gespannter Vorfreude.