Übrigens …

Turangalila im Hamburgische Staatsoper

John Neumeiers neues Sinfonisches Ballett

Kein zeitgenössischer Choreograf hat sinfonische Meisterwerke der neueren Musikgeschichte über Jahrzehnte seines Schaffens so konsequent als reinen Tanz choreografiert wie John Neumeier. 1975 begann die Serie seiner mittlerweile an die zwanzig handlungslosen Ballette mit der 3. Sinfonie von Gustav Mahler. Schon sieben Jahre früher - damals noch Tänzer im Stuttgarter Ballett und gerade erst mit einigen wenigen kürzeren Choreografien hervorgetreten - hatte der hochmusikalische Amerikaner sich darum bemüht, Messiaens in jeder Hinsicht opulente Turangalîla-Sinfonie (uraufgeführt unter Leonard Bernstein in Boston 1949) choreografieren zu dürfen. Aber erst jetzt ist ihm das gelungen, dank der Vermittlung seines Landsmannes und Messiaen-Spezialisten Kent Nagano, Hamburgs neuem GMD und Freund der Familie Messiaen, der auch die Aufsehen erregende Aufführung von Messiaens Oper Saint François d'Assise 1998 bei den Salzburger Festspielen dirigierte.

Der Premierenerfolg von Turangalîla zur Eröffnung der 42. Hamburger Ballett-Tage war programmiert. Denn mit zehn Sätzen sprengt Messiaens umfangreichstes Orchesterwerk den üblichen Rahmen eines Konzertstücks und schreit förmlich nach bildlicher Ergänzung, zumal in unseren visuell dominierten Tagen. Als hätten Hamburgs Musik- und Ballettfreunde sehnlich auf eine derartige gemeinsame Großtat „ihrer“ beiden Amerikaner gewartet, so euphorisch brandeten Applaus und Ovationen am Ende der neunzigminütigen Uraufführung auf - für das Hamburg Ballett mit seinem 72-jährigen Direktor und Chefchoreografen (seit 1973!), die Ausstatter Heinrich Tröger (Bühne) und Albert Kriemler (Kostüme) und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg mit seinem Chefdirigenten sowie den Solistinnen Yejin Gil (Klavier) und Valérie Hartmann-Claverie (Ondes Martenot). Diese Premiere dürfte als Meilenstein in die Hamburgische Kulturgeschichte eingehen.

Kein Geringerer als ein Architekt hat den Raum mit größter Eleganz gestaltet. Heinrich Tröger, der langjährig erfahrene Bühnenbildner und -techniker, hat den Orchestergraben abgedeckt und die Tanzfläche als weiße Ellipse markiert. So ist auf der Hinterbühne genug Platz für das riesige Orchester - Signal auch für die Gleichberechtigung von Musik und Tanz. Dass der Dirigent den Tanzenden den Rücken kehren muss, also auf deren Tempi keinerlei Rücksicht nehmen kann, ist mutig, aber - typisch Neumeier - durchaus nicht risikobehaftet. Denn der studierte seine Choreografie mit der Kompanie genau auf Naganos CD-Einspielung des Messiaen-Werkes ein. Links vom Orchester verlaufen kreuzförmig zwei breite weiße Linien an den Wänden. Hinten sind eine schmale Galerie und ein runder Balkon errichtet, auf denen - entsprechend einem akustischen Echo oder aber wie einer Vorahnung - Tänzer sichtbar werden in Formationen und Posen wie vorn auf der Tanzfläche. Ein transparenter Zwischenvorhang wird immer wieder von oben nach unten oder umgekehrt zwischen Musiker und Tanzende gezogen und changiert von glutrot bis creme oder schwarz.

Ebenso edel und doch mit geboten praktikabler Effizienz hat der Schweizer Modedesigner Albert Kriemler die Tanzenden kostümiert. Hosenröcke, die den indischen Männerrock Dhoti mit den Beinkleidern nordindischer Frauen unter den halblangen Kleidern für Frauen raffiniert kombinieren, hauchzarte Kleider mit Glockenröcken - mit Blumenmuster für Hayley Page sogar als erwiese der Designer Pina Bauschs unvergleichlicher Marion Cito Reverenz - für die Damen, lange schwarze Tutus und leuchtend rote, schwingende Cocktailkleider mit taillentiefen Ausschnitten, kurze weite Oberteile und wippende Fransen in lichten, satten und dunklen Farbtönen vermitteln erotische Sinnlichkeit, die vor allem mit dem immer wieder kehrenden hochromantischen „Liebesthema“ der Musik in diesem letzten Teil von Messiaens „Tristan“-Trilogie korrespondiert.

John Neumeier verlängert die rund achtzigminütige musikalische Aufführung durch lautlose Passagen zwischen den einzelnen Sätzen und beginnt sein Ballett mit einem Prolog, in dem er den zauberhaft natürlichen, jungen Christopher Evans als neugierig kindlichen Sucher und Beobachter auftreten lässt. Er wird sich in die Auftritte der Liebenden schleichen und unter die wilden Horden mischen, beobachtend im Schneidersitz am Rand sitzen - eine typische Neumeier-Figur, der Publikumsliebling natürlich.

Männer beherrschen die Szene. Viele ihrer Gesten und Posen erkennt man wieder aus früheren Neumeier-Balletten (etwa Peer Gynt) - oder die Pyramiden und akrobatischen Skulpturen wie in Troy Games von Robert North. Auch die markigen „Machos“ und unwiderstehlichen Lover fehlen natürlich nicht - wie Carsten Jung und Edvin Revazov. Die Frauen sind schön und sanft (Hélène Bouchet, Yun-Su Park) und quirlig wie junge Colibris: die zauberhaft zarte Mayo Arii (zu den Glissandi des elektronischen Vogelzwitscherns der Ondes Martenot) mit dem ganz verdattert verliebten Lockenkopf Alexandr Trusch. Immer wieder zitiert Neumeier indischen Bharatanatyam. Denn Messiaen hat seine Sinfonie nach zwei Sanskrit-Worten (Tempo und Spiel) benannt und die einzelnen Sätze als Liebesspiele komponiert, allerdings in sehr westlichen Stilen zwischen Gershwin, Mussorgsky, dem französischen Impressionismus und sogar atonalen Passagen.

Wenn man die so jungen Talente aus Neumeiers Kompanie mit ihrer technischen Kompetenz und gleichzeitig so unwiderstehlich sympathischen Ausstrahlung auf der großen hanseatischen Opernbühne erlebt, weiß man, dass John Neumeier - Kitsch, Sentimentalität und affektierter Duktus hin oder her - so viel richtig gemacht hat in seinen bislang schon über 40 Jahren als Hamburger Ballettikone wie sonst kaum ein anderer in der deutschen Tanzszene.