Übrigens …

The Exterminating Angel im Salzburger Festspiele

Surreal klaustrophobischer Albtraum

Der Terminus „Filmoper“, im frühen 20. Jahrhundert für eine originär als Film realisierte Opernpartitur angewandt, hat sich mit Ende jenes Jahrhunderts, in dem das Medium Film sich entwickelte, verändert zu filmisch umgesetzten Bühnenwerken: der Praxis des Schauspiels, Film-Drehbücher für die Bühne zu adaptieren, folgend, sind Film-Opern nunmehr auch Opern, die auf Filmhandlungen basieren.

Luis Buñuels Filme haben in ihrer surrealen Ebene eine stark vom Theater geprägte Dramaturgie und Dialogtechnik. Der Film El ángel exterminador des 1983 verstorbenen Cineasten weist darüber hinaus stark opernhafte Züge auf, vom Einzug der Gäste über den Toast auf die Opernsängerin, bis hin zum dann doch wieder gebrochenen Erlösungsschluss. Auch in diesem seiner Filme geht es Buñuel um eine schonungslose Demaskierung der Bourgeoisie. Sein ursprünglich geplanter Titel lautete Die Schiffbrüchigen von der Straße der Vorsehung, – er hat neue Aktualität erlangt.

Hierzulande lief der Film unter dem Titel Der Würgeengel, mit konkretem Bezug zum Alten Testament, wo von diesem berichtet wird. Das Salzburger Programmheft übersetzt den Titel jedoch wörtlich als Der Vernichtungsengel. Aus unerklärlichen Gründen kann eine Gesellschaft der Upper Class eine Villa nicht verlassen – Jeder, der es versucht, stirbt.

Eine ideale Stoffvorlage für die dritte Oper des „surrealistischen Komponisten“ (Richard Taruskin) Adès, dessen zweite Oper nach Shakespeares The Tempest unlängst auch an der Wiener Staatsoper gefeiert wurde und als DVD der New Yorker Produktion vorliegt.

„Es ist Territorium, das ich sehr mag, denn es sieht so aus, als wären die Leute in einem Raum, doch es geht eigentlich nicht um diesen Raum – in Wirklichkeit sind sie in ihren eigenen Köpfen gefangen“, konstatiert der Komponist.

Librettist Tom Cairns hat die gegenüber Buñuels Filmdrehbuch von 21 auf 15 Hauptpersonen reduzierte Handlung selbst inszeniert. Die Dekoration, realistisches Interieur und eine goldene Wand als Garderobe- und Schrankbereich, sowie eine offene, torartige Wand, bewegen sich behutsam mit Hilfe der Drehbühne. Bisweilen wird ein Gazeschleier eingesetzt oder der halbe Bühnenausschnitt vertikal versteckt.

Lebensecht, quasi filmisch, inszeniert Cairns, wie die eingeschlossenen Gäste ihre guten Sitten verlieren. Erst stirbt ein Gast, dann begeht ein junges Paar, das sich gerade erst kennen gelernt hat, Selbstmord. Die Pause dient als ein Zeitraffer, danach sind einige Tage, wenn nicht noch mehr Zeit vergangen. Vor dem Haus ist Polizei aufgezogen, Demonstranten versuchen, die Absperrung zu durchbrechen, aber niemand gelangt ins Haus. Wenn die Eingeschlossenen vor Durst ein Wasserrohr anzapfen, sprudelt kurzzeitig eine Fontäne aus dem Boden. Möbel werden verheizt, Schafe aus dem Garten kommen ins Haus, ein Lamm wird geschlachtet und verzehrt. Eine abgetrennte Hand geistert durch den Raum, ein Vergewaltiger aus der Geisterwelt schwebt quer durch den Salon, die nackten Leichen des noch vereinigten Liebespaars werden im Schrank gefunden und getrennt.

Bereits beim Einlass hatte der Zuschauer auf der offenen Bühne echte Schafe erblickt, dazu mischte sich vor Spielbeginn Glockengeläut mit den Einlassklingeln des „Hauses für Mozart“.

Auch Schafe haben Operngeschichte. Erstmals sollten sie im Jahre 1906 bei der Uraufführung von Siegfried Wagners Oper Banadietrich (op. 6) zum Einsatz kommen, fraßen aber vom künstlichen Gras und machten daraufhin solchen Lärm, dass ihr Auftritt gestrichen wurde. In Thomas Adès’ Oper blökten die – dem Komponisten wegen des Bezugs zum Opferlamm wichtigen – Tiere nicht, aber sie hinterließen Dung, der im Spiel weggekehrt werden musste. Für ihren zweiten Auftritt im 3. Akt wurden sie durch künstliche Lämmer ersetzt; der Braunbär, als ein weiteres Symboltier, wurde zunächst filmisch projiziert, später richtete er sich als bemanntes Kostüm hoch auf.

Das klingt nach Esoterik, aber Adès’ Partitur ist durchaus gegenwartsbezogen, in einer klugen Mischung von innovativer Situationskoloristik und gebrochenen Operntopoi mit übersteigerten Gesangslinien für die Rolle der Opernsängerin. Dass ein exzentrischer Magenpatient als Counter sich als Liebhaber der eigenen Schwester outet und dass die Sängerin mit Spitznamen „Walküre“ genannt wird, legt den Bezug zum inzestuösen Wälsungenpaar nahe; obendrein verkörpert ein berühmter Wagner-Interpret jenen Arzt, der bemüht ist, die Exzesse der Eingeschlossenen in Schranken zu halten, sich aber der körperlichen Bedrängung seiner eigenen Patientin nicht erwehren kann.

Die Partitur ist mit viel Sinn für Komik komponiert. Diese entsteht insbesondere durch ständige instrumentale Brechungen und Infragestellungen, romantische Klaviermusik von Paradisi und der Wunsch der Partygäste, doch etwas von Adès zu hören. Blasmusik erklingt beim Zusammenstoß zwischen Demonstranten und Polizei, große Oper und Innerlichkeit beim Duett des suizidalen Liebespaares im Schrank. Die durch den Raum fliegende Hand deutet der Komponist durch Gitarrensolo als die Hand eines Gitarre spielenden Geistes. Insbesondere wird durch den Einsatz des Ondes Martenot, das schwebende, jaulende Laute produziert, permanent der Ernst der Handlung gebrochen. Vielleicht steht dieses elektronische Instrument aus den 1920er Jahren auch als Metapher für den Würgeengel selbst. Lautmalerische Passagen, Walzer, Fuge, Requiem und mystische Glockenklänge färben die oft tonale, mit einfachen aber wirkungsvoll verfremdeten Intervallfolgen arbeitende Tonsprache.

Besondere Höhepunkte bieten Adès’ Zwischenspiele mit gewaltigem Stimmungsaufbau. Im Gedächtnis bleiben summende Chöre, wie in Opern Franz Schrekers, donnerndes Schlagwerk wie bei Volker David Kirchner – und der sich als Echo einlösende Kniff der gegen Ende der Oper wiederholten Anfangsszene im Salon.

Die Starbesetzung umfasst die schlanke, stimmlich voluminöse und in den höchsten Lagen spitzentonsichere Audrey Luna als Operndiva Leticia Maynar, Anne Sofie von Otter als irrational und grotesk sich gebärdende Patientin Leonora Palma, John Tomlinson als Doktor Carlos Conde, Charles Workman als Gastgeber Edmundo de Nobile und Amanda Echalaz als seine untreue Gattin Lucia. Auch der Counter Frédéric Antoun als Raúl und Sally Matthews als Silvia de Ávila seien herausgehoben aus der umfangreichen, rollendeckenden Solistenbesetzung.

Der Komponist selbst interpretiert als Dirigent des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien seine an unterschiedlichen Stilformen überaus reiche Partitur.

In der Schlussszene des Films findet ein triumphaler Dankgottesdienst für die Überlebenden statt, und nach dessen Ende ist der Würgeengel bereits wieder in Aktion: Keiner will die Kathedrale verlassen. Die Oper verändert diesen skurrilen Schluss. Musikalisch wird die klerikale Ebene durch ein Requiem (des Salzburger Bach-Chores im Off) angerissen, und szenisch leuchtet der Rahmen eines weiteren Tores am Bühnenportal auf: niemand will über die Rampe und den Orchestergraben ins matt erleuchtete „Haus für Mozart“ springen – so hat also der Würgeengel nun auch im Theater Einzug gehalten.

Im Gegensatz zum Uraufführungsabend waren nur wenige Plätze im Haus unbesetzt. Nach der Pause gab es im Auditorium zwar mehr Lücken, aber am Ende der zweieinhalbstündigen Aufführung herrschte – von einem einsamen Buhrufer abgesehen – große Begeisterung für die ausführenden Künstler, insbesondere für den in Personalunion erfolgreichen Komponisten und Dirigenten.

Das Auftragswerk wird als Koproduktion der Salzburger Festspiele auch am Royal Opera House, Covent Garden in London, an der Met in New York, und an der Kongelige Opera in Kopenhagen auf dem Spielplan stehen – und hoffentlich auch auf DVD erscheinen.