Eisensteins vollständige „Iwan“-Filme an einem Abend im Konzerthaus Berlin
Nach dem Panzerkreuzer Potjomkin und den klanglichen Rekonstruktionen der vollen Orchesterversionen von Die Generallinie, Alexander Newski und Oktober, war Frank Strobel für die Rekonstruktionen mit gesteigerten Anforderungen konfrontiert.
Denn anders als bei den vorangegangenen Filmprojekten mit Live-Orchesterbegleitung, waren bei Iwan Grosny Sprache, Geräusch und Musik auf nur eine Tonspur zusammengedrängt. Und der Klang dieser Aufnahme war so verrottet, dass die beiden Teile dieses Films aufgrund der schlechten Tonqualität kaum mehr zur Aufführung kamen. Die Möglichkeit, die Musik unter Texten und Geräuschen digital herauszulöschen, wurde erst kürzlich entwickelt, um für die neue Edition von Wim Wenders’ Die Angst des Tormanns beim Elfmeter einen Elvis-Song zu eliminieren und durch eine neue Komposition zu ersetzen.
Dabei ist gerade die Musik der beiden Iwan-Filme lohnend, zumal Sergej Prokofjews Originalmusik für Soli, Chor und Orchester op. 116 zu Sergej Eisenstein Filmepos an Umfang sogar die sinfonische Gesamtdauer der umfangreichsten Film-Partituren von Erich Wolfgang Korngold überbietet.
Der ursprünglich aus Berlin stammende Regisseur S. M. Eisenstein und Prokofjew lernten sich 1932 in Paris kennen und arbeiteten ab 1938 an diesem Filmprojekt, dessen erster Teil 1944 fertiggestellt wurde.
Nach Prokofjews Tod wurde die umfangreiche Filmmusik zu einem Oratorium arrangiert, das auch wiederholt als Ballett realisiert wurde. Im Jahr 2000 erschien im Verlag Sikorski die Filmmusik, basierend auf Prokofjews handschriftlicher Partitur. Strobel aber erkannte, dass diese Partitur und die tatsächlich für den Film eingespielte Musik sich gravierend unterscheiden. Frank Strobel hat nun, ebenfalls bei Sikorski, die Musik zu den Iwan-Filmen, wie sie auf der Tonspur zu hören ist, herausgegeben.
Mit dem ersten Teil der dreistündigen Verfilmung des legendären Lebens jenes Zaren, der als erster das russische Reich vereinen wollte, wurde Eisenstein dem Auftraggeber Stalin gerecht. Der zweite Teil, der Iwans Selbstherrschaft und Machinationen mit den von ihm geschaffenen Opritschniki – einem KGB des 17. Jahrhunderts – fokussiert, durfte erst 1958 nach Stalins Tod gezeigt werden.
Prokofjews Musik, das wird insbesondere in Strobels Interpretation hörbar, lässt die Macht so gewaltig krachen, dass es beim Hören geradezu weh tut. Die symphonische Vertonung arbeitet mit hintergründiger Ironie und intendiert im Kopf des Zuschauers eigene Gedankengänge und Assoziationen. Im polyphonischen Aufbau wird die intensive Verzahnung von Bild, Text und Musik deutlich. Der Komponist verwendet starke, die beiden Filme verzahnende Themen und Motive für Personen und Situationen; die Thematik von Gewitter („Grosnij“ bedeutet korrekt übersetzt „der Gewittrige“) steht allgemein für Gefahr, und das Thema des Gifts, mit dem die böse Bojarenfürstin Jefrosinia (Serafima Birman) Iwans Frau, die Zarin Anastasia Romanowna (Ljudmilla Zelekowskaja) tötet, wird anschließend zum Thema der Selbstherrschaft. Iwans Hybris, die Eisenstein mit dem großartigen Darsteller Nikolai Tscherkassow kongenial einfängt, wird von Prokofjews Tonsprache untermauert. Überhaupt unterstützt die Musik die inoffizielle Aussage des Regisseurs auf der Metaebene als ein visueller Kontrapunkt.
Obgleich der Abend im Rahmen des Musikfests, mit dreiviertelstündiger Pause, Opernlänge erreichte, mit viel Redundanz im zweiten Teil, hätte man sich doch gewünscht, auch Eisensteins dritten Teil zu Iwan, von dem der Regisseur nur noch 20 Minuten gedreht hat und zu dem es auch Skizzen von Prokofjew geben soll, bei dieser Gelegenheit zu erleben.
Der Dramaturg des Radio Sinfonie Orchesters Berlin, Steffen Georgi, betonte in seinen Einführungen und im Programmheft die Nähe dieses filmischen Kunstwerks zu Richard Wagner und dessen Gesamtkunstwerk, dessen Personalunion hier, für „eine unvollendete Götterdämmerung“ auf die Schultern von schöpferischem Regisseur und Komponist verteilt ist. In der Tat hat der Film stark opernhafte Momente in seiner Gestik, in seinen bühnenartigen Aufbauten (etwa dem Schachfeldboden beim polnischen König), den großformatig angelegten Chören und insbesondere in jenen Passagen, die Prokofjew als historisierend liturgische Musik komponiert hat. Im zweiten Teil, mit Rückblenden in die Kindheit des Zaren und den traumatischen Ursachen für dessen Konfrontation mit den Bojaren, wechseln nummernartige Szenen und unbegleitete Dialoge. Wie in der Grand Opéra erfolgt die dramatische Zuspitzung des Putschversuchs der Bojaren in einer großen Festtanz-Szene, zu der die Choristen gellend mit den Fingern pfeifen. Zur dramaturgischen Steigerung dieses Festakts mit dem geplanten Attentat auf Iwan und der unbeabsichtigten Ermordung des schwachsinnigen Zarensohns (Pawel Kadotschnikow) im Kostüm seines Vaters, wechselt Eisenstein von Schwarzweiß- auf Farbfilm, ein Mittel, das er in der Schlussszene nochmals aufgreift.
Vor Beginn des Film-Aufführung hat Strobel als musikalischen Prolog Prokofjews Gesang Das blaue Meer ergänzt, das die Altistin Marina Prudenskaya, die im zweiten Teil das Lied von Biber, mit dem die Bojarin zur Ermordung des Zaren anstachelt, zu interpretieren hat, hinreißend singt.
Im großen Saal des Konzerthauses ist die Leinwand umgeben vom Herrenchor, Schlagwerk und Kirchenglocken, davor, auf der Bühne, das mit 160 Instrumentalisten besetzte Orchester.
Live-Filmmusik ist zu einer Spezialität des RSB geworden, das diese anspruchsvolle Partitur mit dreifachem Holz und fünffachem Blech auf sehr hohem langen Niveau ausführt. Im zweiten Teil gab es leider hörbare Ermüdungserscheinungen bei den Trompeten. Da die Produktion nicht nur von ARTE für eine eigene Mischung von Live-Darbietung und Filmbild mitgedreht, sondern während der Proben bereits für eine Fassung ohne die russischen Filmdialoge für Deutschlandradio und für CD produziert wurde, werden sich die kleinen Mängel der Live-Darbeitung für die Ausstrahlung im Fernsehen und für die DVD sicherlich korrigieren lassen. Der von Rustan Samedov einstudierte, hoch motivierte Rundfunkchor Berlin, die Solist*innen (neben der Prudenskaja der Bassist Alexander Vinogradov und Anne Bretschneider, Judith Simonis, Roksolana Chraniuk als Stimmen der 3 Jünglinge im Feuerofen beim Spiel im Spiel) und insbesondere der Dirigent worden vom Publikum im ausverkauften Konzerthaus mit Ovationen gefeiert.
ARTE überträgt das Filmkonzert mit eingeblendeten Eindrücken aus dem Konzertsaal am 7. November 2016 ab 23.10 Uhr.