Geburt des wahren Lebens aus der Tragik
Als hätte er nicht genug eigene Dramen geschrieben, erlebt die Dramatisierung seines Romans Homo Faber, 60 Jahre nach seinem Entstehen, ihre Bühnengeburt. Und was für eine. Im „Pfauen", dem Schauspielhaus Zürichs, wird der Weltenbummler, ein ferner Verwandter Fausts und Peer Gynts, in grandios ineinander greifenden Szenen durch die Welt geschickt. Es ist eine Reise ins eigene Innere, die tragisch endet. Autor Max Frisch dürfte die Theater-Version, die der fünfungdreißigjährige Bastian Kraft erarbeitet und auf die Bretter gezaubert hat, gefallen. Erzählt der doch, in szenisch immer wieder verblüffend stringenten und mitreißenden Bildern, zusammengefügt aus Erzähl-Fetzen, eingeschobenen Dialogen und in Bilder umgesetzte Roman-Passagen, die Geschichte eines Mannes, dessen Weg vom technokratisch besetzten Hirn hin zum Mythos bewegt. Am Ende wird der zuvor so nüchtern-sarkastische Gefühls-Verächter Walter Faber bekennen: „Ich liebe das Leben". Diese Erkenntnis zu gewinnen, bedurfte es freilich aller möglichen Wirrungen und Irrungen einer modernen Existenz.
Faszinierend ist bereits der Auftakt, mit dem Krafts Inszenierung in die Geschichte springt. Ein breites Laufband, immer wieder, aber dann immer weniger in Szene gesetzt, treibt den umtriebigen, nur auf die Technik vertrauenden Schweizer Ingenieur Walter Faber (Matthias Neukirch), gnadenlos voran. In einem riesigen, nach hinten geklappten Spiegel, verdoppelt sich die reale Szene, unterlegt durch den fortlaufenden, mit Schreibmaschine niedergelegten Roman-Text (Bühne Peter Baur). Rechts vom Laufband sitzt an einem Tisch, einer Souffleuse gleich, Hanna, Fabers Ex-Frau (Lena Schwarz). Sie ist mal nüchterne Erzählerin, mal ins Spiel integrierte Akteurin. Sie greift ein wie eine Regisseurin des eigenen und falsch gelaufenen Lebens mit Walter. Das springt hin und her zwischen Momentaufnahmen dessen, was gerade geschieht und Dialogen, die das gerade live Erlebte in der Rückschau noch einmal aufleben lassen - jetzt wissend, „damals" ahnungslos ins Schicksal tappend.
So fügen sich, Stück für Stück, die Lebensgeschichte Fabers, seiner Ex-Geliebten Hanna und beider Tochter Sabeth (Dagna Litzenberger Vinet) zu einem blendenden Gesamtbild. Grandios gestaltet Kraft die verschiedenen Zeitebenen. Fabers langsam erwachende inzestuöse Liebe zu seiner Tochter, die er nicht als seine Tochter erkennt, wird in ebenso einfache wie schöne Bilder gesetzt. Durchmischt werden solche Szenen mit kurzen Dialogen zwischen Faber und Hanna, die im Rückblick das Geschehene in einem besonderen Licht erscheinen lassen.
Faber, der auf Schicksalsgerede pfeift, alles naturwissenschaftlich begründet sehen will und sich keine Gefühlsflausen erlaubt, wird gleichwohl immer stärker in tragische Situationen getrieben. Dass er sich, der nüchterne Realist und Sarkast, in ein junges Mädchen verliebt, in ein Verhältnis mit ihr stolpert, ehe er, ähnlich wie einst Ödipus, seine tragische Verstrickung zu spät erkennt, ist der Beginn einer Läuterung, die Gefühle in ihr Recht einsetzt. Sabeth, wie er Elisabeth nennt, die junge Geliebte, ist nämlich seine Tochter. Hanna, die Halbjüdin hatte er einst verlassen. In dem Glauben, sie würde das gemeinsame Kind, von dem sie schwanger war, „wie besprochen und entschieden" abtreiben lassen. Doch Eli-Sabeth lebt.
Zum Schluss, nach Verzweiflungsausbrüchen Hannas und dem von Faber zu verantworteten Tod, bekennt er, der angebliche Gefühlsverächter, dass er „das Leben liebt". Das vertraut er, nun einsam und alleine, dem Spiegel an, der zuvor die gesamte Szene perspektivisch verdoppelt hat und sich nun nach unten neigt - zum Spiegel-Bild eines Geläuterten, der sich zudem als „Vater, der alles zerstörte", bekennt.
Ein blendender Abend, ein kleines Theaterwunder. Langer und intensiver Applaus war der mehr als berechtigte Lohn für Kraft und sein mitreißend agierendes Sextett.