Gruselfaktor Revolution
Vielleicht ist einfach nicht die Zeit, sich mit revolutionären Umbrüchen zu beschäftigen, gerade jetzt, wo Europa auseinander driftet und in Amerika ein unberechenbarerer Milliardär von den Wählern an die Macht gepusht wurde. Jedenfalls erntete die politische Revue Marat/Sade von Peter Weiss nur lauen Applaus am Deutschen Theater.
Was war geschehen? Ein bisschen fühlt man sich wie in einem Gruselkabinett, denn die Bühne ist zu einer Schaubude umgestaltet worden, aus der ein Steg reicht, über den die Figuren dem Publikum entgegen schnellen wie ein Skelett in der Geisterbahn. Überhaupt beschwört die Inszenierung von Stefan Pucher allerhand Assoziationen, die das Bilderbuch aufklappen lassen. Denn die Schauspieler, allen voran Allzweckwaffe Daniel Hoevels als Revolutionär Jean Paul Marat, sind nur halbe Bürschchen. Hoevels hat seinen Körper in Schwarz gehüllt und unterm Kinn geht’s mit einer Puppe weiter, die kunstvoll vor den Körper geschnallt worden ist (Kostüme: Annabelle Witt). Irgendwie ist Hoevels ein wenig blass, teils unbeholfen in dieser Montur. Jedenfalls sieht’s skurril aus, auch ein bisschen liliputmässig - ein irrer Zoo der menschlichen Abnormitäten. Ja, und es sind auch keine Normalos, die Weiss in seinem 1964 uraufgeführten Stück gegeneinander antreten lässt. Da ist der Kollektivist Marat, der gewaltbereite Revolutionär, der als Schöpfer vor-marxistischer Gedanken gilt, der die Menschen einzufangen verstand und Teile des Tages aufgrund einer psychosomatischen Hauterkrankung in einer Badewanne verbrachte, und da ist Marquis de Sade, Adliger mit hoch individualistisch geprägten Blick auf die Wirklichkeit, der innerhalb pornographischer, anarchischer Fabeln eine Gegenutopie zu seiner Zeit schuf. Die beiden sind sich zu Lebzeiten nie begegnet, jedoch hielt Sade eine Rede auf Marats Beerdigung. Ein politischer Schachzug, der Sade vor der Guillotine retten sollte.
Den Skeptiker de Sade gibt Felix Goeser als energischen Typen, der eine Show in der Irrenanstalt inszeniert – auch hier ein historischer Querverweis auf den echten Sade, der in einem Hospiz in den letzten Jahren seines Lebens Theateraufführungen vor einem bourgeoisen Publikum aufführte. Diese Brechung zeigt den Zuschauern die Künstlichkeit des revolutionären Geschehens auf und blättert das Bilderbuch irgendwie schon ein paar Seiten nach vorne, während Marat noch in seiner Badewanne vor sich hindümpelt und auf die Ermordung durch Charlotte Corday (ebenfalls gruselig: Katrin Wichmann) wartet. Sade, der Regisseur, der Abgeklärte, der, der über den Dingen steht.
Den ostentativen Zeigefinger hat Pucher in seiner Revue heraus redigiert, vielmehr sind die Protagonisten eine spröde Truppe, die um die Deutungshoheit der Welt streiten und sich selbst und ihre Umgebung nicht so recht ernst zu nehmen scheinen. Wenn Marat und Sade in der Schlüsselszene um ihre Prinzipien fighten, kann man vieles hineininterpretieren: Die Unvereinbarkeit menschlicher Sichtweisen, die auch im Jetzt zum Tragen kommen, wenn die Welt wie gebannt auf ihre Führer schaut und nicht weiß, ob sie weinen, lachen oder einfach nur staunen soll?
Ordentlich Power in die Sache gibt Anita Vulesica als Ausruferin, die augenzwinkernd in die Geschichte einführt und immer wieder eingreift, wenn es allzu wirr wird.
Wenig Applaus für dieses sperrige Kostümspektakel, das auch die eine oder andere Länge im Weiss-Text mit ordentlich Kirmes-Kitsch zukleistert. Vielleicht hätte man die Puppenkörper einfach lieber in der Kiste lassen sollen.