Kieksend im Schnee
Neun Sekunden benötigte Karim Bellarabi am 23. August 2014 für das schnellste Tor der Bundesliga-Geschichte. Katrin Brack, gleiche Initialen, anderes Metier, brauchte am vergangenen Sonntag maximal zweieinhalb für einen rekordverdächtigen Szenenapplaus: Kaum ging beim Gastspiel des Wiener Akademietheaters im Theater im Pfalzbau Ludwigshafen der Lappen hoch, applaudierte das Volk. Bracks Bühne war, wie Bracks Bühnen häufig sind, aber immer wieder ist das überwältigend schön: Mal leuchten Hunderte von gelben Glühbirnen, mal schweben Luftballons vom Himmel, mal regnet es zwei Stunden lang, so dass man im Parkett fröstelnd den Kragen hochzieht, mal überwältigt den Zuschauer ein Konfettiregen. Diesmal: schneit es. Es schneit zu Beginn der Aufführung, und wenn das Drama um John Gabriel Borkman zu Ende geht, schneit es immer noch. Offenbar schneit es schon seit Stunden, denn der Bühnenboden ist bedeckt mit geschätzten 50 Zentimetern feinstem Theaterschnee. Kalt ist die Welt der Familie Borkman - auch wenn Gunhild und Ella in dünnen Kleidchen durch den Schnee stöbern. Der Bankrotteur und Ex-Bankier JGB hat sich dagegen dick eingemummelt. Er verkriecht sich nicht nur seit der Entlassung aus dem Knast im Obergeschoss seiner Villa, sondern er versteckt sich auch im dicken Wintermantel. Und damit keiner auf die Idee verfalle, seine Isolation zu durchbrechen, gibt er sich auch noch als ziemlich rüdes Arschloch.
Die Frage, ob der Ausnahmeschauspieler Martin Wuttke sowas kann, stellt sich nicht. Die Frage, ob der Ausnahmeschauspieler Martin Wuttke mit dieser eher eindimensionalen Darstellung - nur in ganz seltenen Momenten umgibt ihn ein Hauch von Tragik - sein Talent verschleudert, stellt sich schon. Und noch viel mehr stellt sie sich bei der seit ihren ersten Schritten auf den österreichischen Theaterbühnen zur Jahrhundertschauspielerin gehypten Birgit Minichmayr. Auch die tut in Simon Stones Inszenierung, was sie oft tut, aber sie tut es in nie zuvor gesehenem Ausmaß: Sie kiekst. Ihre unglückliche Gunhild ist bei Stone von morgens bis abends sturzbesoffen. Und so stolpert sie durch den Theaterschnee, dass es eine Lust ist. Und kiekst, als wolle sie beweisen, dass die Volksbühnen-Sophie Rois ihr in dieser Disziplin nicht annähernd das Wasser reichen könne. Nur ist das Kieksen bei Sophie Rois immer lustig, und bei Minichmayr nervt es. Volksbühnen-Sophie weiß nämlich, wann der Übertreibung genug ist; Burg-Birgit dagegen treibt es weit darüber hinaus. Das nahmen viele Theaterkritiker zum Beweis für eine gelungene Groteske. Sie wählten Stones Inszenierung bei der Kritikerumfrage der Zeitschrift Theater heute zur Inszenierung des Jahres. Fünf von 43 abgegebenen Kritikerstimmen reichten für diese Ehre, aber immerhin.
Simon Stone tut bei seiner Burgtheater-Inszenierung ebenfalls das, was er immer tut – und weshalb man ihn von Amsterdam bis Basel, von Melbourne bis München und von Wien bis Hamburg verpflichtet. Er überschreibt Theater-Klassiker und verwandelt sie in vom Bildungsbürger begeistert rezipierte RTL-Soaps. Was für hinreißende und emotional überwältigende Ergebnisse dabei herauskommen können, dürfen wir in Nordrhein-Westfalen in einer oft humorvollen, aber vor allem zutiefst berührenden Aufführung bewundern: bei Stones Orestie frei nach dem zweieinhalbtausend Jahre alten Gegenwartsdramatiker Aischylos . Ein Gegenwartsdrama hat Stone auch aus John Gabriel Borkman gemacht: Selbst in die tiefe norwegische Provinz „haben sie und vor ein paar Monaten das Internet … hergebracht“, säuselt besoffen die stolpernde Gunhild: „Da kam so’n Mann mit dem LKW, und da war das Internet“. Wenn Gunhild googelt, schlägt die Suchmaschine die passenden Ergänzungen zum Namen ihres Mannes vor: „Borkman Betrug“, „Borkman Verhaftung“, „Borkman Gefängnis“. Nicht schön. Wir aber wären nach der Entlassung aus dem Gefängnis nicht vor der Scham, sondern vor dieser Gattin auf den Dachboden geflohen.
Manche Schauspieler widersetzen sich Stones dröhnendem Comedy-Ansatz, und sie tun gut daran. Roland Koch gibt Borkmans Ex-Angestellten Wilhelm Foldal weich und warmherzig, nach Orientierung und Ausgleich suchend. Nicola Kirschs Fanny Wilton steht mit beiden Beinen im Leben und schaut sich das chaotische Gewusel in der Borkman’schen Familie mit souveräner Distanz an. Und dann gibt es ja noch die Dame, die bei der Kritikerumfrage von Theater heute ebenfalls den ersten Preis abräumte: Caroline Peters wurde für ihre Ella Rentheim von sechs der 43 Kritiker zur Schauspielerin des Jahres gekürt. Peters bringt ein wenig Ruhe und Relevanz in die Inszenierung. Phasenweise gelingt es ihr, eine interessante moderne Liebesgeschichte aus der Upper Class - mit Boot vor Korsika - zu erzählen. Sie überzeichnet nicht; ihre Ella behält als einzige über lange Zeit die Fähigkeit zur kritischen Analyse der Situation.
Stone geht bei seiner Überschreibung des Ibsen-Stückes keineswegs so radikal vor wie in vielen anderen Inszenierungen. Das Drama bleibt nicht nur kenntlich, sondern es wird auch in seinen Abläufen nur geringfügig verändert. John Gabriel Borkman gehört – Finanzkrise hin, Banker-Boni her – nicht zu den stärksten Stücken des norwegischen Dramatikers, und so ist eine Überschreibung oder eine auch zum Humoristischen neigende Inszenierung durchaus angemessen. Wie das gehen kann, hat Armin Petras im Jahre 2012 an den Münchner Kammerspielen unter Beweis gestellt – in einer Inszenierung, in der sich Regiekonzept, Schauspieler, Bühnenbild und Musik zu einem atmosphärisch stimmigen, abwechslungsreichen und bei aller Komik auch die Tragik der Figuren hervorhebenden Gesamtkunstwerk ergänzten . Simon Stone aber setzt auf Boulevard und Dauer-Power. Das wunderschöne melancholische Bühnenbild steht zu den aufgekratzten Figuren in Kontrast anstatt die Inszenierung atmosphärisch zu unterstützen. Seinen Figuren hat Stone in der neuen Textfassung manch hübsche Pointe in den Mund gelegt; und Birgit Minichmayr hat in ihren besten Momenten etwas von Elisabeth Taylors Martha aus „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“. Aber leider versagt Minichmayr ihrer Figur jede Entwicklung und jede charakterliche Facette. Wenn Gunhild und ihre todkranke Schwester Ella verzweifelt um Borkmans Sohn Erhart kämpfen und dabei auf eine Weise klammern, mit der jede Mutter ihre Kinder verlieren würde, hat die Inszenierung durchaus etwas Tragisches. Dass der Kampf aber in veritablem Frauen-Wrestling kulminiert, wirkt peinlich. Die Groteske, in die der Regisseur (mit gutem Grund) die reichlich unglaubwürdige Geschichte zu treiben versucht, wird so zum Klamauk.
Bei genauem Hinhören lassen sich in Stones Überschreibung Anklänge an das Gebaren heutiger Finanzmarkt-Akteure entdecken. Wenn Borkman im Gespräch mit Foldal seine Interpretation der Gründe für seinen Sturz liefert und die Machenschaften seines Ex-Freundes und späteren Gegners Hinkel schildert, schimmert ein wenig wirtschafts- und gesellschaftskritische Relevanz auf. Aber in all der Hektik, die die übrigen Figuren verbreiten, gelingt es dem Zuschauer kaum, sich auf diese Facette zu konzentrieren.
Nicht, dass wir uns missverstehen: Eine solche Inszenierung muss man mal machen können, zumal wenn man über so herausragende Schauspieler verfügt wie die Wiener Burg. Simon Stone zeigt uns eine andere Interpretation des etwas altbackenen Stückes, eine radikalere, krawallig-populistische Lesart, die in eine Zeit passt, in der konfliktfreudige, grob gestrickte Stimmenfänger wie Donald Trump Zulauf für ihre Politik erhalten. Das alles ist nicht schlecht. Aber wir wissen, dass Stone es besser kann – und wir wissen, dass man der oft unbeholfenen Ibsen’schen Sprache und dem etwas umständlichen Stückaufbau überzeugender auf die Sprünge helfen kann. Dass eine Aufführung wie diese zum Berliner Theatertreffen eingeladen oder zur Inszenierung des Jahres gewählt wird, erscheint unwahrscheinlich. So unwahrscheinlich wie eine Wahl von Donald Trump zum Präsidenten des mächtigsten Landes der Welt. An solche unwahrscheinlichen Ereignisse wollen wir nicht glauben.